Zoom

Tanzend durch den Lockdown

Es ist 10 Uhr Pacific Time. Am anderen Ende der Leitung ist Orly Star. Während in Deutschland der Abend beginnt, startet die Tänzerin in ihren Tag. »Vielleicht ein paar Übungen«, sagt sie, ansonsten gönnt sie sich mehr Ruhe und Pausen. Denn das Leben ist anstrengend mitten im Lockdown, auch in Los Angeles. »Normalerweise unterrichte ich an vielen Schulen, habe Tanzklassen mit Kindern und Erwachsenen«, erzählt die Tanzlehrerin.

Das alles fällt jetzt weg. Und trotzdem verordnet sich Orly Star Optimismus und sagt: »Ich wache frühmorgens auf und hoffe, dass meine verrückten Ideen bei den Menschen ankommen. Jeder kämpft hier, ich kenne keinen, der das nicht tut.«

zufall Das Tanzen hat sie fast komplett ins Internet verlegt. Seit 21 Jahren ist sie Lehrerin. Geboren in Israel, aufgewachsen in L.A., ging sie schon als Kind zum Ballett. Während der Zeit im College war es mehr ein Zufall, dass sie zum israelischen Volkstanz fand. Seitdem ist es ihr Leben.

Heute ist die 41-Jährige in Kalifornien und – darüber hinaus – eine der namhaftesten Vertreterinnen dieses speziellen Tanzes. Was das genau ist, lässt sich nur schwer in wenigen Sätzen erklären. Orly Star formuliert es so: »Er gibt uns die Chance, eine gemeinsame jüdische Identität zu leben. Denn Menschen kamen aus den unterschiedlichsten Ländern nach Israel – und Tanzen verbindet.« Orlys eigene familiäre Wurzeln etwa liegen im Iran.

»Weil wir alle dieselben Schritte zur selben Zeit machen, egal ob im gleichen Raum oder nicht, bilden wir eine Gemeinschaft.«

Orly Star

Hinter dem Tanz mit all seinen Facetten stehe die Idee, sich die Hände zu reichen und eine Gemeinschaft zu bilden, egal, wo man gerade lebt. »Ich tanze mit meinem Nachbarn, der Tausende Kilometer entfernt ist. Die Distanz ist groß, doch weil wir alle dieselben Schritte zur selben Zeit machen, egal ob im gleichen Raum oder nicht, bilden wir eine Gemeinschaft.«

EINFLÜSSE Es sind viele Tänze, schätzungsweise 8000 bis 9000 könnte es geben, sagen jene, die diese Kunst seit Jahrzehnten lehren. Die Lieder werden meist auf Hebräisch gesungen, es sind biblische Geschichten, poetische Verse, aber auch populäre Rhythmen aus der Gegenwart. Die Palette ist groß, die Einflüsse kommen aus dem chassidischen, jemenitischen, marokkanischen Raum – und selbst aus dem Hip-Hop.

Man tanzt mit Partnern, in Reihen oder – und das ist meist so – in einem großen Kreis. Und genau hier beginnt ein Problem, wenn man sich weder die Hand geben noch sich überhaupt als Fremde oder Freunde irgendwo in einem großen Raum begegnen darf.

Orly Star in Los Angeles ging es ähnlich. Weil sie viele ihrer Kurse ins Internet verlegen konnte, geht es irgendwie weiter. »Aber es ist mental anstrengender. Wenn wir in einem großen Raum zusammen sind, kommt von mir Energie in die Gruppe, und ich bekomme Energie zurück. Das ist fantastisch. Beim Blick in den Bildschirm spüre ich das nicht.« Weil die Pandemie nicht nur ökonomisch ein Desaster ist, versucht sie, nicht nur sich, sondern auch die anderen zu motivieren, den Kopf nicht hängen zu lassen.

FACE TO FACE Als im März vergangenen Jahres klar war, dass sie für lange Zeit kein Studio anmieten und auch keine Menschen »face to face« zum Tanzen sehen würde, griff sie zum Telefon. Ihr guter Freund und Nachbar Aaron Alpert erzählt: »Sie rief mich an und sagte: ›Lass uns was machen! Lass uns Menschen zusammenbringen, irgendwie, damit alle ein wenig Freude haben.‹«

Die Palette reicht von Hip-Hop bis zu chassidischen und jemenitischen Rhythmen.

Es dauerte nicht lange, und man brachte die Fans und Freunde via Zoom zusammen. Webcams wurden angeschlossen, Mikrofone installiert, eine Playlist der Musik erstellt und via Internet das neue Konzept auf den Weg gebracht. »Wir haben uns zusammengeschlossen, einmal pro Woche um 18 Uhr abends Pacific Time, das war irgendwie eine gute Mitte, um viele Menschen, zumindest in den USA, zu erreichen.« Doch dabei blieb es nicht.

Was als Tanzen in großer Gemeinschaft in Kalifornien begann – jeder für sich im Wohnzimmer –, breitete sich schnell weltweit aus. Einer der berühmtesten Choreografen aus Israel war bei der ersten Session dabei, schwärmt Aaron Alpert.

Seit dem 18. Lebensjahr lehrt er israelischen Volkstanz, vom tief religiösen chassidischen Inhalt bis hin zu populären Musikstücken. »Ich lebe damit meine Religion. Wir tanzen ›Jewish stories‹.« Seit seiner Kindheit ist er vom Tanzen begeistert, erzählt der 32-Jährige. Nicht nur zu den Hohen Feiertagen und Chanukka luden er und Freunde gemeinsam mit Orly Star zu Tanz-Sessions ein. Auch sonst versucht man, mit der Welt in Kontakt zu bleiben, das Tanzen nicht zu minimieren, sondern eher zu aktivieren. »Denn eines ist klar«, meint der Kalifornier, »gerade jetzt versuchen alle, sich regelmäßig zu treffen, überall auf der Welt.« Es sei eine »global connection«.

CHOREOGRAFIEN Auch Ken Avner aus den USA gehört dazu. Er lebt im US-Bundesstaat Maryland. Jeden Donnerstagabend lädt er Menschen ein, um mit ihnen via Bildschirm zu tanzen. »Das Wunderbare ist«, sagt er, »manche Menschen, die ich früher ein- oder zweimal im Jahr getroffen habe, sehe ich vielleicht jetzt zwei- oder dreimal pro Woche.« Auch er nimmt an Sessions seiner Kollegen teil oder lässt sich zuschalten, um von Maryland aus für eine Zoom-Dance-Session in Texas/Dallas die Musik zu liefern.

Ken Avner ist eigentlich IT-Spezialist und beruflich für den Sicherheitscheck eines Energie-Unternehmens in seiner Heimatstadt zuständig. Das Tanzen begeistert ihn seit der Jugend. »Obwohl«, meint er lachend, »ich entsprach auch in meiner Jugend dem klassischen Bild eines Mannes, der meinte, Tanz sei nur etwas für Mädchen. Das hat meine Schwester damals gründlich korrigiert.« Sie nahm ihn mit zum Tanzen, und seitdem, sagt er, »komme ich nicht mehr los davon.«

Es geht vielen so wie ihm, die Szene für israelische Volksmusik und Tanz sei in den USA und in Israel groß. Warum Menschen so gerne nach diesen Choreografien tanzen, dafür gebe es unterschiedliche Gründe. »Die einen mögen die Gemeinschaft, die anderen fühlen sich dadurch der Religion und israelischen Kultur nahe. Andere wiederum haben dadurch eine soziale und auch körperliche Aktivität, die bis ins hohe Alter machbar ist. Vor allem jetzt.« Die Menschen seien froh über diese Möglichkeit.

Wenn Ken Avner zu einer Zoom-Dance-Session lädt, rückt er den Laptop vom Wohnzimmertisch in eine andere Richtung, das Zimmer wird zur Tanzbühne.

Wenn Ken Avner zu einer Zoom-Dance-Session lädt, rückt er den Laptop vom Wohnzimmertisch in eine andere Richtung, das Zimmer wird zur Tanzbühne. Eine Webkamera überträgt, und via Mikrofon ist er fürs Publikum eingeschaltet. Zwei, drei manchmal auch vier Stunden kann ein Tanz-Event dauern. »Die Menschen«, erzählt er, »genießen es.«

Und sie müssen auch nicht komplett mitmachen. Manche klinken sich zwischendurch aus, gehen kurz in die Küche, kommen zurück. »Es ist eher easy, dabei zu sein. Und dann macht es klick, klick, klick – mal schalten sich Fans aus Australien, mal aus Mexiko hinzu. Aus Europa eher weniger, bis auf eine aktive Dame aus Paris.«

BUCH Auch der in Graz gebürtige Matti Goldschmidt kennt die Szene der Tanzlehrer weltweit. Er gehört zu den wenigen hierzulande, die in Deutschland auf diesem Gebiet aktiv sind. Es dürften etwa 100, maximal 200 Personen sein, die den israelischen Tanz auf Fortgeschrittenem-Niveau beherrschen. Er ist dem Tanz seit 1976 verbunden und arbeitet seit 1988 als Tanzpädagoge. »Ich muss zugeben, 2020 war tänzerisch für mich ein enttäuschendes Jahr, nicht nur, was meine Arbeit als Tanzlehrer angeht.«

Matti Goldschmidt lebt in München und gibt dort normalerweise in diversen Gruppen Tanzunterricht, etwa regelmäßig montags im jüdischen Gemeindezentrum. »Ich habe bis in den Februar getanzt, dann gab es im Herbst nochmals vier Einheiten. Ich habe auch ein Tanz-Camp in Tschechien besucht.« Das war es dann auch für ihn. »Sonst lebe ich ja nicht nur von, sondern vor allem mit den Tänzen.«

Die einen mögen die Gemeinschaft, andere fühlen sich der Religion und Kultur nahe.

Normalerweise bietet er Wochenendkurse an und reist selbst gerne durch die Welt. Derzeit ist auch für ihn alles anders. Was er von den Zoom-Kursen der US-Kollegen hält? Nicht ganz so viel, meint er, denn man könne niemanden korrekt sehen und im Zweifel korrigieren oder bei den Schrittkombinationen helfen, aber: »Wenn 80 Menschen miteinander verbunden sind, aus dem Riesenland, aus New York, Los Angeles, Miami, Detroit, wenn sich alle zusammen sehen, das hat was!« Auch er würde sich hin und wieder einige Tanz-Sessions ansehen, »gerade aus den USA«.

Was er sich wünscht für dieses Jahr? Ganz klar, man möge sich wieder begegnen dürfen, anfassen, tanzen, etwas Gemeinsames veranstalten. 3000 Menschen erreicht er mit seinem Newsletter. Mehr als 50 verschiedene Größen des israelischen Tanzes habe er bereits in seiner Zeit als Pädagoge eingeladen. Etwas Wehmut klingt aus seiner Stimme. Vielleicht wird er die kommenden Monate nutzen, um seinem Buch Die Bibel im israelischen Volkstanz von 2001 ein Update zu verpassen. »Das wäre eigentliche eine schöne Idee«, meint er.

FAMILIENZEIT Oft seien ältere Menschen am Tanz interessiert, erzählt Goldschmitts Tanzkollege Avner aus Kalifornien. Manche aus nos­talgischen Gründen, andere, weil sie jetzt nach einer aktiven Familienzeit wieder Freiraum für Hobbys haben. »Tanzenlernen ist ein bisschen wie Sprachenlernen«, meint Ken Avner. »Das sieht zunächst komplex und schwierig aus, eben weil jeder Song eine eigene Choreografie hat.« Das Entscheidende sei die Musik. Wenn man sie nicht möge, sei die Choreografie unbedeutend. »Man hat keinen Zugang. Ist es aber eine ungewöhnliche Aufnahme, dann hört man hin!«

Ihn selbst begeistert die Vielfalt der Musik, ebenso Festivals wie das Karmiel Dance Festival in Israel. »Wenn Tausende Menschen auf einem Tennisplatz zusammenkommen, die gleichen Schritte machen, sich zur gleichen Zeit bewegen, dann innehalten und gemeinsam atmen – das kann man nicht beschreiben.«

Orly Star hofft, dass die Community gestärkt aus der Pandemie hervorgeht. Die Zeit bis dahin will sie überbrücken und hart arbeiten, um andere zu motivieren.

VERBINDUNG Auch Aaron Alpert verbindet mit Tanz Hoffnung – auch für andere. »Er bringt mich in einen besonderen Gemütszustand und lässt Gefühle zu, die ich sonst nicht erleben würde im Alltag. Wenn ich tanze, kann ich die Seele und eine große Freude spüren, genauso wie die tiefe Verbindung zu anderen.«

Ob in Kalifornien oder München – in den kommenden Monaten werden alle von ihnen regelmäßig Zoom-Meetings in Tanzsäle verwandeln und Schritt für Schritt ihre Leidenschaft vermitteln, um einander irgendwann wieder die echten Hände zu reichen. Bis dahin gelte es durchzuhalten, sagt Aaron Alpert und freut sich auf alle, die mitmachen wollen. »Wir sind absolut offen für neue Teilnehmer, jeder ist willkommen.« Wohl wissend, getanzt wird, zumindest nach deutscher Zeit, mitten in der Nacht.

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