Frankreich

Streitpunkt Heimat

Überzeugt davon, dass »die jüdische Gemeinschaft ein untrennbarer Teil der französischen Gesellschaft« ist: Oberrabbiner Haïm Korsia Foto: imago/PanoramiC

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Streitpunkt Heimat

Ein Meinungsartikel in einer jüdischen Zeitung löst eine heftige Debatte um den Oberrabbiner aus

von Michael Magercord  04.03.2021 08:40 Uhr

»Les Bleus«, die Fußballnationalmannschaft, ist die letzte Institution des Landes, die noch die volle Unterstützung der französischen Juden erfährt. Ansonsten aber bindet die Mitglieder der größten jüdischen Gemeinde in Europa nichts mehr an die Grande Nation.

Das zumindest behauptete Ariel Kandel. In der Zeitschrift »Actualité Juive« nahm der Chef der in Jerusalem ansässigen Organisation »Qualita« zur Förderung der Einwanderung französischer Juden kein Blatt vor den Mund, um den Zustand der Republik zu beschreiben: »Es ist an der Zeit, laut zu sagen, was viele denken: Frankreich ist überfordert im Kampf mit Covid-19, mit der Verteilung des Impfstoffs und beim Kampf gegen den radikalen Islam und den Antisemitismus.«

Der einstige Koordinator der Jewish Agency für Frankreich hat für die Leser nur eine Abhilfe für ihre Zukunftssorgen parat: Alija, die Auswanderung nach Israel.

WIDERREDE Der Meinungsartikel in dem Pariser Wochenblatt blieb allerdings nicht unwidersprochen. Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia erteilte dieser Sichtweise eine Absage und bezeichnete sie als »voreingenommene und bittere Karikatur«. Seither reißt die Diskussion in der jüdischen Gemeinde nicht mehr ab.

Dabei geht es jedoch nicht unbedingt um die Frage »Weggehen oder bleiben?«, sondern die Debatte entzündete sich an der Haltung des Oberrabbiners zu Frankreich.

Haïm Korsia ist seit 2014 Oberrabbiner des Landes und hat in seiner Amtszeit schwere Stunden erlebt. Die Terroranschläge von 2015, den Mord an Sarah Halimi 2017 durch einen arabischen Nachbarjungen, aber auch etliche antisemitische Vorfälle etwa auf Friedhöfen forderten von dem heute 57-Jährigen immer wieder Stellungnahmen zu der Frage, ob Frankreich noch ein Land sei, in dem man als Jude leben könne.

Viele in der Gemeinde glauben, Korsia leide an Realitätsverlust.

Korsias Antwort fiel immer deutlich aus: Die jüdische Gemeinschaft ist ein untrennbarer Teil der französischen Gesellschaft.

Schon nach dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt Hyper Cacher in Paris im Januar 2015 mit vier jüdischen Terroropfern war Korsia von dieser Sicht nicht abgewichen und wies damals die Aufforderung von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu an die europäischen Juden, »nach Hause nach Israel« zu kommen, zurück.

Für Korsia bleibt es auch heute dabei: Wer als französischer Jude nach Israel geht, hat dafür vor allem familiäre Gründe. Darüber hinaus erfolge die Alija als »ideologische oder spirituelle Wahl«, nicht aber aus Sicherheitserwägungen.

BESCHWICHTIGUNG Ein unverbesserlicher Optimist, der allmählich an Realitätsverlust leide – das war der Tenor vieler Reaktionen aus der jüdischen Gemeinde auf die beschwichtigenden Äußerungen des Oberrabbiners.

Die Kritik fand sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern erfolgte auch von engsten Mitstreitern. Mikaël Journo, Generalsekretär des von Korsia geleiteten Rabbinerverbandes, gemahnte den Oberrabbiner an dessen Verantwortung als religiöser Führer. Er solle nicht über jene herziehen, die sich entschlossen haben, Frankreich zu verlassen: »Wer sind wir, uns anzumaßen, über jene zu richten, die ihre Kippa wieder offen auf der Straße tragen können wollen?«

Noch deutlicher sind die Stimmen aus Israel: Der französische Oberrabbiner habe den Sinn für die Geschichte des jüdischen Volkes und der Tora verloren, heißt es. »Die Rückkehr ins Land der Vorfahren ist deren Sinn«, ließ die Vorsitzende der Likud-Unterorganisation für frankophone Zionisten, Nili Kupfer-Naouri, verlauten, es sei nicht »bloß eine spirituelle Wahl«.

identität Wer dies sage, vertrete eine christliche Vorstellung von der jüdischen Identität, postete sie bei Facebook: »Keine Überraschung bei jemandem, der von sich sagt, er fühle sich bei Notre-Dame in Paris daheim.«

Die Einwanderungszahlen scheinen den Kritikern des Oberrabbiners recht zu geben. Seit 2013 sind mehr als 30.000 französische Juden nach Israel ausgewandert – dies sind doppelt so viele wie in den sieben Jahren davor. Doch aus welchen Gründen?

Die Einwanderungszahlen scheinen den Kritikern des Oberrabbiners recht zu geben. Seit 2013 sind mehr als 30.000 französische Juden nach Israel ausgewandert.

Haïm Korsia findet auch Zustimmung. So sieht Paul Levy, der Vorsitzende des Konsistoriums für die Region Centre Ouest, in den Ausführungen des Oberrabbiners eine Bestärkung dafür, wie wichtig die Alija sei – und zwar gerade, weil Korsia sie als freie und positive Lebenswahl betrachtet, die nicht aus Not vollzogen wird. Die Dramatisierung der gegenwärtigen Lage trage lediglich zur Spaltung der jüdischen Gemeinschaft bei, die doch besser in diesen Zeiten zusammenstehen sollte, zumal die Sorgen und Ängste vor dem radikalen Islamismus von der großen Mehrheit der französischen Gesellschaft geteilt werden, so Levy.

ISLAMISMUS An der jüngsten Debatte der jüdischen Gemeinschaft zeigt sich das Dilemma, in dem sich das ganze Land befindet. Das laizistische Frankreich ringt um eine Standortbestimmung in der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam.

Wie groß ist dessen Einfluss auf die Politik? Soll man sich gerade von den Verächtern des freien Staates hineintreiben lassen in den Aufbau autoritärer Strukturen? Und nicht zuletzt: Wie weit darf sich der doch eigentlich neutrale Staat in die Angelegenheiten der Religionsausübung einmischen?

Mit dem neuen Separatismusgesetz, das offiziell »Gesetz zur Stärkung republikanischer Prinzipien« heißt, aber letztlich auf die islamischen Parallelstrukturen zielen soll, will die Regierung unter Präsident Macron Handhabe gegen Hassprediger in Moscheen und Koranschulen erhalten.

CRIF Der jüdische Dachverband CRIF begrüßt das Gesetz, und obwohl der Oberrabbiner die Sorge vor der grundsätzlichen Verachtung der Religion durch den Staat als Störfaktor für den Zusammenhalt der Republik mit den Oberhäuptern der anderen Religionen teilt, wertet Haïm Korsia diesen staatlichen Eingriff trotzdem als Initiative zur Bekämpfung von Terror und Gewalt und somit zur Befriedung der Gesellschaft.

Von ruhigen Zeiten ist Frankreich derzeit weit entfernt. Die soziale Frage wird spätestens nach Corona wieder gestellt werden, dazu der heftige Streit über das ebenfalls neue Sicherheitsgesetz, das der Polizei weitreichende Befugnisse bei Demonstrationen erteilt.

Die Härte der Auseinandersetzung offenbart die tiefen Gräben in der Gesellschaft, die sich spiegelbildlich auch in der jüdischen Gemeinde auftun. Denn tatsächlich vollzieht sich derzeit eine Angleichung des Meinungsbildes der jüdischen Bevölkerung an die allgemeinen Verhältnisse in Frankreich: Die Zustimmung für die rechtspopulistische und ausdrücklich islamkritische Marine Le Pen, die in der jüngsten Umfrage zur kommenden Präsidentschaftswahl 2022 in Führung geht und auch in der zweiten Runde nur noch knapp hinter Präsident Macron liegt, erfährt auch unter französischen Juden immer größere Unterstützung.

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