Warschau

»Sechs Millionen Polen«

Vergangenen Sonntag in Warschau: polnische Kriegsveteranen bei den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Gründung der Heiligkreuz-Brigade Foto: dpa

Polen sind gute Menschen. Sie haben ein gutes katholisches Gewissen, durchleben gerade einen guten politischen Wandel und werden bei den Parlamentswahlen am 13. Oktober den Angriff des Bösen abwehren. Das ist das Erziehungsprogramm der natio­nalpopulistischen Partei »Recht und Gerechtigkeit (PiS) für die neuen polnischen Patrioten.

Präsident Andrzej Duda betont dabei gerne, dass unter den Polen kein Platz sei für Antisemiten und Nationalisten. Die neue Definition der Polen als »gute Menschen« hat nun nicht nur zur Folge, dass sich polnische Antisemiten »von selbst aus der Volksgemeinschaft der Polen ausschließen«, also keine Polen mehr sind, sondern fördert auch die Rückkehr zu einem polnischen Opferverständnis, wie es in der Zeit des Sozialismus gepflegt wurde.

zahlen Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nazis im deutsch besetzten Polen mehr als 90 Prozent der polnischen Juden und rund fünf bis sieben Prozent der ethnischen Polen – in absoluten Zahlen rund drei Millionen Juden und rund 1,4 Millionen ethnische Polen, wie der Historiker Feliks Tych bereits 2001 nachwies und sein Kollege Mateusz Gniazdowski im Jahr 2008 bestätigte.

Auf Anweisung von Jakub Berman, einem Mitglied des Politbüros im Zentralkomitee der Polnischen Arbeiterpartei, wurde die Opferzahl 1947 willkürlich auf insgesamt sechs Millionen oder 22 Prozent der Vorkriegsbevölkerung hochgesetzt. Die christlichen Polen sollten sich als Opfer gegenüber den polnischen Juden nicht zurückgesetzt fühlen. Berman hoffte zudem, mit diesem Schritt auch den nach wie vor virulenten Antisemitismus im Land einzudämmen.

Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nazis im deutsch besetzten Polen mehr als 90 Prozent der polnischen Juden und rund fünf bis sieben Prozent der ethnischen Polen.

Nicht berücksichtigt wurden bei diesen sechs Millionen die Opfer der anderen nationalen Minderheiten, wie etwa der Ukrainer, Litauer, Weißrussen, Deutschen oder Tataren. Ausgeblendet wurden auch diejenigen polnischen Staatsbürger, die in den Jahren 1939 bis 1941 dem zweiten Aggressor und Besatzer Polens zum Opfer fielen, der Sowjetunion.

denkmal Dass Polens Nationalpopulisten seit einiger Zeit fast nur noch von »sechs Millionen Polen« sprechen, die im Krieg ums Leben gekommen seien, verwundert nicht angesichts ihrer Geschichtspolitik. Doch diese Formel, die sich demnächst auch in einem »Polen-Denkmal« mitten in Berlin wiederfinden soll, läuft auf die Entjudaisierung der Schoa hinaus.

Zur Erinnerung: Am 20. Januar 1942 kamen in einer Villa am Berliner Wannsee hochrangige Beamte des Deutschen Reiches zusammen, um die bereits seit einem halben Jahr laufende »Endlösung der europäischen Judenfrage« zu koordinieren. Auf einem Dokument war detailliert für jedes Land die Zahl der Juden aufgelistet, die für den Massenmord infrage kamen: insgesamt elf Millionen Menschen in ganz Europa, darunter mehr als drei Millionen Juden im besetzten Polen.

Ein ähnliches rassenideologisches Vernichtungsprogramm für christliche Polen gab es nicht. Auch wenn einzelne deutsche Massaker Völkermordcharakter hatten – wie die Germanisierungs-Aktion von Zamosc in Südpolen Ende 1942 oder der Massenmord an Zivilisten in den ersten Augusttagen des Warschauer Aufstands 1944 –, kann doch keine Rede sein von einem Völkermord an den ethnischen Polen.

Widerstand Die hohe Opferzahl der Polen hatte weniger damit zu tun, dass Polen ermordet wurden, weil sie Polen waren, sondern mit dem rassenideologisch begründeten NS-Feindbild des »slawischen Widerstands«. In speziellen »Intelligenzaktionen« wurden polnische Professoren, Lehrer, Ingenieure und Ärzte ermordet, die einen künftigen Widerstand der Polen anführen könnten. Allein im Warschauer Aufstand 1944 ermordeten Wehrmachtssoldaten, SS-Männer und Kollaborateure rund 150.000 polnische Zivilisten und circa 16.000 Kämpfer. Zudem wurde für alles und jedes die Todesstrafe verhängt, um abzuschrecken und vor dem noch so geringsten Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht zu warnen.

Die neue Formel läuft auf eine Entjudaisierung der Schoa hinaus.

Seit Jahren kritisieren Polen, dass ihr Leiden – anders als das der Juden – in Westeuropa und den USA nicht richtig anerkannt werde. Die »großartige Aufarbeitung der Nazi-Zeit«, auf die die Deutschen so stolz seien, beschränke sich weitgehend auf den Holocaust. Vom Besatzungsterror der Nazis gegen die christliche Bevölkerung Polens hingegen wüssten die Deutschen fast nichts.

Es ist kaum zwei Wochen her, da erhielt Polens Oberrabbiner Michael Schudrich vom Veteranenverband der Nationalen Streitkräfte (NSZ) – und sicher in Absprache mit dem Staatspräsidenten Andrzej Duda – eine Einladung zum 75. Jahrestag der Gründung der Brygada Swietokrzyska (Heiligkreuz-Brigade). In Polen ist allgemein bekannt, dass diese Untergrundgruppe aus polnischen Nazi-Kollaborateuren bestand, die im Auftrag von SS und Gestapo jüdische und kommunistische Partisanen ermordeten.

Empört schlug Schudrich die Einladung aus und schrieb in einem öffentlich gewordenen Brief auch an Präsident Duda: »Die Organisation dieser Feier beleidigt das Andenken aller Staatsbürger Polens, die im Kampf gegen die Deutschen gefallen sind. Mich dazu einzuladen, empfinde ich als eine persönliche Beleidigung.« Duda sagte daraufhin seine Teilnahme ab, zog seine Schirmherrschaft aber nicht zurück.

Bereits im Februar 2018 hatte Polens Premier Mateusz Morawiecki nach der Münchner Sicherheitskonferenz auf dem Friedhof am Perlacher Forst einen Kranz am Denkmal für die Soldaten der Heiligkreuz-Brigade niedergelegt und damit einen Skandal ausgelöst. Der Premier, so der Vorwurf, hätte lieber der polnischen Opfer des KZs Dachau – unter ihnen waren viele Priester – gedenken sollen, aber nicht der »Mordgesellen der Heiligkreuz-Brigade«.

Die in Polen wiederholt von PiS-Anhängern erhobene Forderung nach einem zentralen Berliner »Polen-Denkmal« hat sich auch eine Initiative in Deutschland zu eigen gemacht.

Die in Polen wiederholt von PiS-Anhängern erhobene Forderung nach einem zentralen Berliner »Polen-Denkmal« hat sich auch eine Initiative in Deutschland zu eigen gemacht. Die Vorsitzenden fast aller Bundestagsfraktionen wie auch die Bundesregierung unterstützen inzwischen das Projekt. In einem Aufruf der Initiative heißt es, das Denkmal möge daran erinnern, dass »Polen als Nation vernichtet werden« sollte.

Historisch ist der Satz falsch. Experten weisen darauf hin, dass dies ein in Polen weit verbreiteter Mythos ist, der noch aus der Zeit des Kommunismus stammt. Im rassenideologischen Plan der Nazis sollten die Polen als »slawische Untermenschen« ein Helotenvolk an Arbeitern stellen, das den deutschen Herrenmenschen im neuen »Lebensraum im Osten« dienen sollte. Die Ausrottung der Polen als Nation war nie geplant.

museum Besser als ein fragwürdiges »Polen-Denkmal« in Berlin wäre wohl ein Museum, das die NS-Okkupation in ganz Europa erklären würde. Dabei sollten nicht Krieg und Kampfhandlungen im Vordergrund stehen, wie beispielsweise im Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, sondern das Alltagsleben in verschiedenen Ländern Europas unter deutscher und sowjetischer Besatzung. Neben Widerstandskämpfern und Judenrettern sollten auch politische und gesellschaftliche Kollaborateure ein Thema sein.

Der polnischen Juden zweimal in Berlin zu gedenken – als Juden mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas und dann noch einmal als Staatsbürger Polens mit dem Polen-Denkmal (zusammen mit den ethnischen Polen) –, wäre verwirrend.

Nach Rechtsruck

Auschwitz Komitee zur Österreich-Wahl: »Neues alarmierendes Kapitel«

Erstmals hat die rechte FPÖ in Österreich eine Nationalratswahl für sich entschieden. Das Internationale Auschwitz Komitee zeigt sich besorgt

 01.10.2024

Mexiko

Claudia Sheinbaum tritt Präsidentinnenamt an

Sie ist die erste Frau und die erste jüdische Person an der Spitze

 01.10.2024

Los Angeles

»Wenn die Wellen gut sind«

Omer Levy hat nach dem 7. Oktober den Shabbat Surf Club gegründet. Ein Gespräch über das Weitermachen, die Hohen Feiertage und Westsamoa

von Katrin Richter  01.10.2024

Analyse

In Österreich schlägt die Stunde des Bundespräsidenten

Der Alpenrepublik stehen turbulente Zeiten bevor

von Stefan Schocher  30.09.2024

Nationalratswahl

Rechtsruck in Österreich

Die rechtspopulistische FPÖ mit Parteichef Herbert Kickl ist erstmals stärkste politische Kraft – eine Zäsur für das Land

von Matthias Röder  29.09.2024

USA

Borscht-Belt-Renaissance

Tausende jüdische Familien genossen einst am Rande der Catskills nördlich von New York ihre Sommer. Nach Jahrzehnten des Verfalls wird die Region nun wiederentdeckt. Unser Autor hat sich dort umgeschaut

von Sebastian Moll  29.09.2024

Frankreich

Sinn in der Sinnlosigkeit

Laura Blajman Kadar hat das Nova-Festival-Massaker überlebt. Seit einem Jahr reist die Franko-Israelin durch Europa

von Laura Blajman Kadar  29.09.2024

Österreich

»Herbert Kickl hätte uns deportiert«

Die FPÖ könnte bei der Nationalratswahl am Sonntag stärkste Partei werden. Was würde das für jüdisches Leben bedeuten?

von Stefan Schocher  28.09.2024

Porträt

Erste jüdische Präsidentin in Mexiko: Iztapalapa als Vorbild

Am 1. Oktober wird Claudia Sheinbaum als Mexikos neue Präsidentin vereidigt. Ihr Vorgänger López Obrador hinterlässt ein von Gewalt gezeichnetes Land. Doch es gibt auch Projekte, die hoffen lassen - etwa im Bezirk Iztapalapa in Mexiko-Stadt

von Wolf-Dieter Vogel  27.09.2024