Argentinien

Schwieriger Freund

Javier Milei am 13. August in seiner Wahlkampfzentrale in Buenos Aires nach Schließung der Wahllokale während der Vorwahlen Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Nach seinem überraschenden Erfolg bei den Vorwahlen in Argentinien wurde der Rechtsaußen-Kandidat Javier Milei in einem Fernsehinterview gefragt, warum man ihn mit Hitler vergleiche. »Vielleicht mache ich ja etwas falsch«, antwortete Milei. »Ich gehe nicht in die Kirche, ich gehe in den Tempel, ich spreche nicht mit Priestern, ich habe einen Oberrabbiner, und ich lerne Tora. Ich bin international als Freund Israels und als Tora-Gelehrter anerkannt. Ich bin nahe dran, ein Jude zu sein, ich brauche nur noch den Blutsbund.«

Diese herausgekehrte Verbundenheit mit dem Judentum, obwohl er selbst Katholik ist, ist nicht das einzig Irritierende an Milei. Der Sieg des 52-jährigen Ökonomen und Abgeordneten bei den Vorwahlen am 13. August, die eigentlich der Kandidatenkür der jeweiligen Parteien dienen, jedoch zeitgleich und landesweit durchgeführt werden, hat Argentinien aufgeschreckt. Kein anderer Kandidat erhielt mehr Stimmen als Milei. Er gilt nun als Favorit für die Präsidentschaftswahlen Ende Oktober.

Milei propagiert das freie Tragen von Waffen und hält den Klimawandel für »sozialistische Lüge«.

Milei verspricht, die Inflation, die über die vergangenen zwölf Monate mehr als 110 Prozent betrug, in den Griff zu bekommen. Dazu will er die argentinische Wirtschaft so rasch wie möglich dollarisieren und den Argentinischen Peso abschaffen – die Zentralbank am besten gleich mit. Einer seiner denkwürdigsten Auftritte zeigt ihn, wie er mit einem Stock eine Kiste zerschlägt, die die Zentralbank repräsentiert. Er wolle sie »in die Luft jagen«, hat Milei einmal gesagt.

TRUMP Der selbst ernannte »Anarcho­kapitalist« ist ein ultraliberaler Libertärer, der verspricht, »die politische Kaste« in Argentinien zu vernichten, der das freie Tragen von Waffen propagiert und den Klimawandel für eine »sozialistische Lüge« hält. All das erinnert ein wenig an Donald Trump und den früheren brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Wie Trump ist Milei ein Produkt des Fernsehens: Sein stechender Blick in die Kamera, während er alle möglichen Beleidigungen ausstößt, sicherte ihm einen Platz in Talkshows und brachte ihm hohe Einschaltquoten. Die provokative Art und seine exzentrische Erscheinung aus dunkler Löwenmähne und schwarzen Lederklamotten garantieren Aufmerksamkeit.

Die nutzt er, um seine politischen Ideen unter die Leute zu bringen. Neben einer radikalen Marktliberalisierung verspricht Milei den Abbau staatlicher Sozialprogramme. Sollte er Präsident werden, will er die Ministerien für Bildung, Gesundheit und soziale Entwicklung und neuerdings auch das Wissenschaftsministerium abschaffen und Hunderttausende Staatsdiener entlassen. Bei Milei soll sich der Staat ausschließlich mit Fragen der Verteidigung, der inneren Sicherheit und der Außenbeziehungen befassen.

vorschläge Auch andere Vorschläge sind kontrovers. So spricht er sich für den freien Handel von menschlichen Organen aus. »Warum muss der Staat alles regulieren? Mein erster Besitz ist mein Körper«, sagte er einmal. Frauen scheint er dieses Recht allerdings nicht zugestehen zu wollen. Das argentinische Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch von 2020 lehnt er ab.

Doch Widersprüche machen es schwierig, Milei in eine Schublade zu stecken. Er verteidigt das individuelle Recht auf Geschlechtswahl, die Homo-Ehe und Legalisierung von Drogen. Auch gibt sich Milei antiklerikal. Papst Franziskus hält er für eine Inkarnation des Kommunismus. In der Vergangenheit hat Milei damit geliebäugelt, zum Judentum zu konvertieren.

Auf eine entsprechende Nachfrage in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung »El País« sagte er, dass er darüber nachdenke, warnte aber vor gewissen praktischen Einschränkungen: Die Einhaltung des Schabbats könnte ihn möglicherweise bei der Amtsführung behindern. Unter Anleitung des Rabbiners Shimon Axel Wahnish von der jüdisch-marokkanischen Gemeinde ACILBA in Buenos Aires lernt Milei nach eigenen Angaben Tora.

TALMUD Mileis Faszination für das Judentum begann, erzählte er dem argentinisch-jüdischen Nachrichtensender Radio Jai, als er einen orthodoxen jüdischen Studenten in Wirtschaft unterrichtete. Er sei fasziniert von dessen tiefgründigen Fragen gewesen, die bei genauerer Betrachtung von einer klassischen talmudischen Methode herrührten.

Bereits vor Monaten hat Milei angekündigt, dass seine erste Reise im Falle seiner Wahl nach Israel gehen und er die argentinische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen werde. Auch der derzeitige Präsident Argentiniens, Alberto Fernández, hatte seine erste Auslandsreise nach Israel unternommen. Milei aber stellte klar, dass Fernández »zufällig nach Israel gereist ist, ich tue es aus Überzeugung«.

In der jüdischen Gemeinde Argentiniens wird Mileis zur Schau gestellte Verbundenheit mit dem Judentum nicht nur positiv gesehen. So schrieb Daniel Berliner, Direktor der jüdischen argentinischen Nachrichtenagentur AJN, vergangene Woche in einer Kolumne, die Führung der Gemeinde sei »äußerst besorgt über den öffentlichen Umgang des Kandidaten mit dem Judentum« und erinnert in diesem Zusammenhang an Mileis ablehnende Haltung gegenüber der Ausrufung des 18. Juli zum »Nationalen Trauertag« zu Ehren der Opfer des Bombenanschlags auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA im Jahr 1994 mit 85 Todesopfern und mehr als 300 Verletzten. Milei und seine Parteikollegin Victoria Villarruel stimmten als einzige Parlamentarier gegen einen entsprechenden Gesetzentwurf.

Die Gemeinde ist besorgt über Mileis zur Schau gestellte Verbundenheit mit dem Judentum.

Berliner hält denn Mileis Begeisterung für das Judentum zu einem guten Teil für taktisch. Milei habe »sich in eine Welt gestürzt, die er glaubt, allein durch das wöchentliche Torastudium, seine mögliche Konversion, eine Wahlkampfabschlussveranstaltung mit einem großen Schofarhorn und eine Reise zum Grab des Lubawitscher Rebben in Brooklyn besitzen zu können. (…) Nichts von alledem wird ihn auf magische Weise zum Juden machen«.

philosemitismus Die jüdische Fernsehmoderatorin Débora Plager zeigte sich bereits im Mai vergangenen Jahres in einem Interview von Mileis Philosemitismus irritiert. Zuvor waren beide in einer Debatte wegen Mileis rechtslibertärer Positionen aneinandergeraten, in deren Folge Milei sie und andere Journalisten wegen Diffamierung auf Schadenersatz verklagte. Auch in jener Debatte hätte Milei seine Verbundenheit mit dem Judentum als Verteidigungsargument bemüht, so Plager.

»Um sich zu rechtfertigen«, habe er gesagt, er würde regelmäßig zu einem Rabbiner gehen, und man habe ihm eine Tora geschenkt, und er habe das Holocaust-Museum besucht. »Seine Argumentation hat mich als Jüdin ein wenig schockiert. Fehlte nur, dass er gesagt hätte, er habe einen jüdischen Freund.«

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