Tschechien

Schweres Erbe

Dass sie heute verlieren wird, soll man ihr nicht ansehen. Morgens, vor dem Spiegel, hat sie sich für einen hellen Blazer entschieden, hochgeschlossen, kombiniert mit einem raffinierten Seidenschal, den sie um ihren Hals drapiert hat. Sie ist in den Bus 135 gestiegen, gedrängt voll ist er, bis sie mit Dutzenden anderen vor dem Gerichtsgebäude aussteigt.

Sie rückt sich den Hut zurecht und geht die paar Schritte über den Vorplatz zum Eingang des Justizpalastes. Wenn das Gericht wieder einmal gegen sie entscheidet, will sie erhobenen Hauptes im Saal stehen – sie, Jirina Novakova, Jüdin und Tochter einer der reichsten Familien in der Vorkriegs-Tschechoslowakei.

»Ich finde, es sollte gerecht zugehen«, sagt Jirina Novakova. Als sie sich nach der politischen Wende anschickte, den einstigen Familienbesitz zurückzubekommen, war sie 45 Jahre alt. Sie hatte zwei kleine Kinder, ihre alte Mutter – und, nach all den Jahrzehnten im Kommunismus, ihren unverbrüchlichen Glauben an das Gute: »Alle glaubten damals euphorisch, dass jetzt in der Demokratie endlich alles gut wird.

Niemand konnte sich vorstellen, dass jemand geklauten Besitz behalten würde.« Inzwischen ist Novakova eine ältere Dame, sie hat Enkelkinder, ihre Mutter ist gestorben. Und ihr Glaube an das Gute? Jirina Novakova überlegt kurz. »Noch«, sagt sie dann, »ist der Fall nicht entschieden.«

Wucht Wenn die Prager Richter ihren Palast verließen und zu Fuß in Richtung Süden spazierten, wären sie nach einer Viertelstunde mitten drin im Geschehen: Sie stünden an der belebten Straßenkreuzung, über die hinweg die Leuchtbuchstaben Koh-i-Noor strahlen.

Sie sähen die Umfriedungsmauer des Fabrikgeländes, die sich hunderte Meter weit die Straße entlangzieht, bis zu dem stolzen Gründerzeitpalast, 34 Fenster breit und sechs Stockwerke hoch.

Mit seiner imposanten Wucht kündet das Gebäude noch heute, in seinem halb verfallenen Zustand, vom einstigen Ruhm der Industriellenfamilie Waldes. Von hier aus gingen ihre Reißverschlüsse und Druckknöpfe in alle Welt. Würden die Richter sich hier umschauen, sähen sie oben am Giebel die ausgeblichene Reklametafel mit der Dame, die verschmitzt lächelt und mit ihrem zusammengekniffenen Auge einen Knopf einklemmt. »Koh-i-Noor, the symbol of quality« steht auf der alten Tafel zu lesen.

Aber das Gericht verlässt seinen Palast nicht. Heute tritt es zusammen in Gestalt einer Richterin in schwarzem Talar und ihrer Protokollführerin. Im Raum 1312 sind alle Wände holzvertäfelt, das Licht stammt aus Neonröhren, Fenster gibt es nicht. Es ist ein kleiner Raum, in dem vor der Bank des Hohen Gerichts die Parteien Platz finden, rechts sitzt der Generaldirektor der Firma Koh-i-Noor mit seinem Anwalt, links Jirina Novakova.

Von der glanzvollen Zeit ihrer Familie hat sie selbst nie etwas mitbekommen. Es war ihr Großvater Zikmund Waldes, der mit seinem Bruder Jindrich 1900 die Firma gründete. Sie fanden als Erste ein Verfahren, die damals modischen Druckknöpfe maschinell herzustellen und nicht mehr in mühevoller Handarbeit. Darauf bauten sie ihr Vermögen auf. Den Markennamen Koh-i-Noor trugen die Geschwister Waldes in die ganze Welt: Das Unternehmen expandierte, man eröffnete Fabriken in Dresden, Warschau, Paris und New York.

Werte Zwischen den Weltkriegen gehörten die Waldes zu den einflussreichsten Familien der Tschechoslowakei. Und zu den wohltätigsten: Für ihre Mitarbeiter bauten sie Mietshäuser, sie unterstützten patriotische Vereine, finanzierten ein Denkmal für Jan Amos Komensky, einen der tschechischen Nationalhelden. Und sie leisteten sich eine Sammlung zeitgenössischer tschechischer Kunst.

Mit etlichen Malern war die Familie befreundet. Frantisek Kupka, dessen Bilder heute sechsstellige Beträge kosten, malte in Waldes’ Auftrag das Bildnis jener Dame, die sich den Koh-i-Noor-Knopf ins Auge klemmt – das Logo der Firma. Das Gemälde hat heute einen Wert, der in die Hunderttausende Euro gehen dürfte.

Die Spuren der Familie verloren sich, nachdem die Nationalsozialisten die florierende Fabrik »arisierten«. Fast alle Mitglieder der Familie starben in Konzentrationslagern, nur wenige flohen rechtzeitig ins Ausland. Eine der Überlebenden war Vera, die Tochter von Zikmund Waldes. Am Silvestertag 1945 brachte sie ihre Tochter Jirina zur Welt.

Im Jahr ihrer Geburt liegen die Wurzeln für den Restitutionsstreit, der Jirina Novakova heute zur Lebensaufgabe geworden ist. Ihre Anwälte und die der Gegenseite zerlegen die Geschichte in ihre Einzelteile, bis von dem Schicksal einer Familie nur noch die Nummern einzelner Paragraphen und Dekrete übrig bleiben. Im Kern geht es um die Frage: Wann genau wurden die Waldes enteignet?

Staatsinteressen Es sind wenige Wochen, die heute für den Verlauf der gesamten Causa entscheidend sind. Nach Lesart der Richter bekam die Familie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Besitz zurück – zumindest für ein paar Tage, bis am 27. Oktober 1945 Präsident Edvard Benes seine Dekrete erließ. Darin war unter anderem festgeschrieben, dass die gesamte metallverarbeitende Industrie verstaatlicht wird.

An dieser Stelle kollidiert Jirina Novakova mit höchsten tschechischen Staatsinteressen: Die Benes-Dekrete sind in Tschechien ein unantastbares Gut. Das hat vor allem mit der Vertreibung der Sudetendeutschen zu tun, die ebenfalls in den Dekreten geregelt ist. Sie sind deshalb sakrosankt: Solange die Benes-Dekrete in Kraft sind, bleibt das Kapitel der Vertreibung geschlossen. Und damit auch der Fall Koh-i-Noor.

Die Argumentation mit den Benes-Dekreten indes kommt vielen tschechischen Juden zynisch vor. Und vor allem hat sie im Fall Koh-i-Noor einen Haken: »Wir haben die Firma nach dem Krieg nicht zurückbekommen, die meisten Verwandten waren ja tot«, sagt Jirina Novakova.

Anspruch Heruntergebrochen auf juristische Tatbestände bedeutete das Schicksal ihrer Verwandten, dass der Besitz eben nicht von der Familie auf den tschechoslowakischen Staat übergegangen ist, sondern direkt vom Deutschen Reich – und damit hätte Novakova als Erbin eben doch Anspruch auf das Lebenswerk ihrer Großeltern.

In der Firma Koh-i-Noor will niemand an diese Möglichkeit denken. »Für uns ist der Fall abgeschlossen«, erklärt Ales Donner, eines der Vorstandsmitglieder der heutigen Aktiengesellschaft. Wenn er in seinem Büro die Lamellen der Vorhänge zur Seite schiebt, liegt ihm das riesige Fabrikareal zu Füßen. »Wir liefern in mehr als 50 Länder, sind also fast überall auf der Welt vertreten«, sagt er stolz. Bei der Firma sieht man den Restitutionsstreit auch als Entscheidung über die Arbeitsplätze der 150 Mitarbeiter.

Für eine außergerichtliche Einigung sehe der Vorstand keinen Grund und letztlich auch keine Handhabe: »Wir als Vorstand verwalten die Gesellschaft, die im Besitz unserer Aktionäre ist«, sagt Ales Donner. Tatsächlich hätte ein Restitutionsentscheid gravierende Folgen für die Firma: In den meisten Fällen ist es üblich, dass die privaten Eigentümer eine Firma oder eine Liegenschaft ohne Entschädigung an die Erbengemeinschaft abtreten müssen – auch wenn sie selbst, wie im Fall Koh-i-Noor, reguläre Käufer sind.

forderungen Vermutlich war genau das der größte Fehler, der in der ganzen Causa passiert ist: dass der Staat das Unternehmen Anfang der 90er-Jahre privatisiert hat, obwohl die Restitutionsforderungen bekannt waren. Seither sind die Rollen in dem Prozess anders verteilt: Die Opfer wollen ihren Besitz nicht mehr vom Staat zurück, sondern Jirina Novakova verklagt eine Aktiengesellschaft. »Sie können sich nicht vorstellen, was das bedeutet«, sagt sie. »Das ist eine Belastung, die niemals aufhört.«

Inzwischen hat sie das Verfahren durch sämtliche Instanzen getrieben, viermal war sie vor dem Bezirksgericht, viermal vor dem Kreisgericht, zweimal vor dem Höchsten Gericht. Manchmal bekam sie recht, manchmal die Firma Koh-i-Noor. Inzwischen hat sich auch das Verfassungsgericht mit dem Fall beschäftigt.

Dessen Vorsitzender kanzelte Novakova unmissverständlich ab: Es sei bedauerlich, dass die Familie sowohl vom nationalsozialistischen als auch vom kommunistischen Regime verfolgt gewesen sei, sagte er – Anspruch auf Restitution habe sie aber trotzdem nicht. »Unrecht zu lindern, liegt in der Kompetenz der Gesetzgeber und nicht der Gerichte!« Das Verfassungsgericht hat den Fall damit wieder zurückgegeben zum Bezirksgericht, auf die niedrigste Instanz.

Jetzt also die fünfte Verhandlung dort. Im Saal erheben sich die Parteien, als die Richterin ihr Urteil verkündet. Fünf Minuten dauert allein die Verlesung der Grundstücke, Gebäude und Gemälde, um die es geht. Dann das Urteil: Der Restitutionsklage wird nicht stattgegeben. In ihrem hellen Blazer sitzt Jirina Novakova bewegungslos da, als Letzte verlässt sie den Gerichtssaal.

»Wir gehen in Berufung, das ist ganz klar«, sagt sie draußen. Einmal noch kann sie nach den tschechischen Gesetzen bis hoch zum Verfassungsgericht. Jirina Novakova setzt sich ihren Hut auf und geht zur Bushaltestelle. Wenn sie die Jahre des Prozessierens etwas gelehrt haben, dann ist es Zähigkeit.

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