Schweiz

Die Rothschilds und die Baronin

Gwatt, direkt am Thunersee vor dem Hintergrund hoher Berge, am Eingang zum Berner Oberland. Für viele in- und ausländische Gäste ist dieser Ort, der zur Stadt Thun gehört, vor allem im Sommer eine durchaus geschätzte Destination, unter den Campern gilt er als eine Art Geheimtipp.

Nur einige Schritte vom See entfernt liegt eine Villa, die in ihrer Verträumtheit viel Gelassenheit ausstrahlt. Aus den Räumen des herrschaftlichen Hauses sind zu verschiedenen Tageszeiten auch Klänge einzelner Instrumente zu hören, eine Musikschule hat hier ihren Sitz. Das 1763 erbaute Gebäude mit dem Namen »Bellerive« ist auch bekannt als Bonstettengut, benannt nach dem Berner Patriziergeschlecht derer von Bonstetten, das hier gelebt hat.

BESUCHERSCHAREN Seit etwas mehr als einem Jahr erfreut sich diese Villa am Thunersee aber eines breiten Interesses. Es tauchen zu verschiedenen Tageszeiten zahlreiche Gruppen von Besuchern auf, die sich vor dem Haus aufstellen, um einer Frau zuzuhören, die ihnen gleichsam das Tor zur Geschichte öffnet, die sich hinter diesen Mauern im 20. Jahrhundert abgespielt hat.

Betty Lambert heiratete einen Cousin dritten Grades: Rudolf von Goldschmidt-Rothschild.

Die Frau heißt Franziska Streun und hat mit ihrem 2020 erschienenen Buch Die Baronin im Tresor in der Schweiz für eine kleine literarische Sensation gesorgt. Die Romanbiografie behandelt das überaus spannende Leben der 1894 in Brüssel geborenen Betty Esther Charlotte Laure Lambert, die im zarten Mädchenalter unmöglich ahnen konnte, dass sie einen schönen Teil ihrer 75 Lebensjahre am idyllischen Thunersee verbringen würde.

Warum das Leben der Baronin, der Tochter eines Financiers von König Léopold II. in Brüssel und einer Rothschild-Tochter aus Paris, viele, auch junge Menschen so fasziniert, kann sich Franziska Streun selbst nicht ganz erklären: »Immerhin bietet das Leben von Betty eine Fülle an Themen, die in vielfältiger Weise interessieren können – ein Leben, das die Weltgeschichte mitsamt Kolonialismus sowie zwei Weltkriegen umfasst, dann aber auch die berühmte Rothschild-Dynastie, die bis ins Ghetto von Frankfurt zurückreicht, unzählige bekannte und internationale Gäste und nicht zuletzt die Biografie einer Frau, deren Wirken ich wie einen bislang verborgenen Schatz heben durfte.«

frauenrechte Zwar ist Betty Lambert 1969 gestorben, doch ihre Themen seien sowohl zeitlos als auch politisch aktuell: »Von Antisemitismus über Frauenrechte bis Netzwerken oder Flucht und das umfangreiche Wissen um Daten von Menschen«, nennt Streun Beispiele, »all dies ist heute genauso präsent wie in den Zeiten der Baronin.«

Vielleicht hat das Interesse aber auch mit ihrem Lebenslauf zu tun: Die behütete, aber trotzdem streng erzogene Tochter des Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Belgien muss als kaum Erwachsene den 13 Jahre älteren Frankfurter Bankier Rudolf von Goldschmidt-Rothschild aus der berühmten Dynastie heiraten – einen Cousin dritten Grades.

Dieser Heirat, die von ihrem Vater – auch er war ein Bankier – und ihrem Großvater Gustave de Rothschild arrangiert wurde, entspringen zwei Söhne. Dennoch steht die Ehe unter einem schlechten Stern und scheitert früh. Ein Grund dafür ist, neben vielen anderen, dass sich Betty in Deutschland nie wirklich heimisch fühlt. Sie empfindet Frankfurt – im Ersten Weltkrieg als Feindin im Feindesland – als eng und nimmt die Stadt im Vergleich zu Brüssel auch als sehr antisemitisch wahr, lange bevor die Nazis auf der Bildfläche erscheinen.

Das Buch »Die Baronin im Tresor« hat in der Schweiz für eine kleine Sensation gesorgt.

So reist sie, der Erste Weltkrieg ist eben zu Ende gegangen und die Grenzen sind wieder offen, bald lieber in Europa herum. Zunächst in Gstaad und dann im »Mekka des Tennis«, in Wimbledon, lernt sie ihren zukünftigen zweiten Ehemann kennen. Er heißt Jean-Jacques von Bonstetten und stammt aus einer Schweizer Patrizierfamilie, ist also nicht jüdisch.

ZWEITE EHE Es folgen Scheidung und Wiederverheiratung, und 1922 findet sich Betty auf dem Gut im beschaulichen Gwatt wieder. Sie kauft es ihrem Schwiegervater ab, lässt es umgestalten, kauft Parzellen und Gebäude hinzu und gibt dem südlichsten Berner Patrizierlandsitz jene Handschrift, die das Gut noch heute prägt. »Sie war damals die einzige Jüdin, die ›Bernburgerin‹ wurde und damit Mitglied der feinen Berner Gesellschaft«, erzählt Franziska Streun bei einem Besuch in Gwatt.

Man konnte Betty wohl eine bewusste Jüdin nennen, allein schon ihrer Herkunft wegen. Allerdings verband sie dies nach ihrer Zeit in Deutschland nie mit der jüdischen Religion. Sie verspricht ihrem zweiten Mann sogar, gemeinsame Kinder taufen zu lassen, obwohl diese nach der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, jüdisch sind. Das betrifft dann die gemeinsame Tochter Ynes, die 1923 auf die Welt kommt.

Die Tauffeiern machen Betty bewusst, dass sie sich auch in dieser Familie eigentlich nicht besonders wohlfühlt. 1933 folgt die Scheidung. Betty heißt nun zwar wieder Lambert, nennt sich jedoch als Schweizerin und in Nazizeiten trotzdem weiterhin oft von Bonstetten.

kontakt Allerdings motiviert sie das nicht etwa, sich stärker jüdischen Kreisen anzuschließen, was in Gwatt-Thun, wo es nie eine offizielle jüdische Gemeinde gab, ohnehin schwierig gewesen wäre. »Aber auch mit der nahen Jüdischen Gemeinde in Bern suchte sie zeitlebens keinen Kontakt. Sie verkehrte in ihren eigenen internationalen Kreisen«, weiß die Autorin, die all diese Fakten über Jahre recherchiert und in ihrem Buch verarbeitet hat.

Aber dann kommt der Zweite Weltkrieg, die Schoa wirft ihre langen Schatten auch in die neutrale Schweiz. Ihre Verwandten müssen fliehen, wie Freunde, Bekannte und sowieso Tausende andere Menschen. Und Betty wird wie viele auch zu einer Fluchthelferin und ihr »Gwatt«, wie sie das Anwesen nennt, das schon vorher zu einem Treffpunkt illustrer Personen wie Rainer Maria Rilke, Arthur Rubinstein und vielen anderen geworden war, zu einem geschichtsträchtigen Ort.

Franziska Streun hat in minutiöser Kleinarbeit das Gästebuch ausgewertet, in dem rund 1200 Einträge aus den Jahren 1937 bis 1961 zu finden sind. Sie fand heraus, dass auf diesem Bonstettengut in jenen Schicksalsjahren Politik gemacht wurde. Die Baronin, die offiziell Kontakte mit jüdischen Kreisen oder Organisationen mied, empfing privat zahlreiche jüdische Exponenten, aber auch andere Zeitzeugen, die ihr berichteten, was rund um die Schweiz vor sich ging. »Sie versteckte auch Wertsachen, half mit, diese für Hilfesuchende zu verkaufen, und unterstützte vermehrt Untergrundaktivitäten«, schreibt Franziska Streun in Die Baronin im Tresor.

vernetzt Diplomaten, Vertreter der Résistance, des englischen und amerikanischen Geheimdienstes, wie der einige Jahre in Bern wirkende Allen Dulles, bedanken sich Ende des Zweiten Weltkriegs nicht umsonst bei ihr. Sie sei die »in diesen Jahren wohl international am besten vernetzte Jüdin in ihren Kreisen« gewesen, meinte Dulles damals. Was sie zur trockenen Replik veranlasst: »Ich tat mein Bestes. Es war das Wenigste, was ich tun konnte.«

Während der NS-Zeit versteckte sie Wertsachen und unterstützte Untergrundaktivitäten.

Anderseits waren auch Persönlichkeiten wie Heinrich Rothmund ihre Gäste. Der Schweizer Polizeichef war für seine antisemitische Flüchtlingspolitik berüchtigt. Man darf davon ausgehen, dass dabei Kontakte geknüpft wurden, die nie an die Öffentlichkeit gedrungen sind.

Nach dem Krieg genießt Betty Lambert, geschiedene von Goldschmidt-Rothschild und geschiedene von Bonstetten, einige Jahre mit ihren Gästen, zu denen Freunde und Bekannte wie Marc Chagall, die Schauspielerinnen Greta Garbo oder Grace Kelly gehören, ehe sie Ende 1960 das Gut in Gwatt verkauft und 1969 im Alter von 75 Jahren in der Westschweiz stirbt.

Dank Franziska Streun, deren Buch bereits in der fünften Auflage erschien, ist Betty Lambert heute wieder eine Berühmtheit – in Gwatt und auch an vielen anderen Orten.

Franziska Streun: »Die Baronin im Tresor«. Zytglogge, Basel 2020, 350 S., 29 €
Mehr Informationen zum Buch, zu Bonusmaterial und zu den Führungen »Unterwegs mit der Baronin« unter: www.franziskastreun.ch

New York

Ex-Krypto-König Bankman-Fried soll für 25 Jahre ins Gefängnis

Noch vor zwei Jahren wurde Sam Bankman-Fried als Finanzgenie und Galionsfigur einer Zukunftswelt des Digitalgelds gefeiert. Nun soll er als Betrüger mehr als zwei Jahrzehnte hinter Gittern verbringen

von Andrej Sokolow  28.03.2024

Interview

Der Medienschaffer

Der Ausnahmejournalist und Unternehmer Roger Schawinski über Erfolg, Judenhass und den 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  28.03.2024

Nachruf

Joe Lieberman stirbt mit 82 Jahren

Fast ein Viertel Jahrhundert lang setzte er sich als Senator auch für jüdische Belange ein

von Imanuel Marcus  28.03.2024

USA

Bildhauer Richard Serra gestorben

Für mehr als 100 öffentliche Orte schuf er Skulpturen – von Philadelphia und St. Louis bis Bochum und Kassel

 27.03.2024

Moskau

Evan Gershkovich bleibt in Untersuchungshaft

Putin will den inhaftierten US-Journalisten gegen russische Gefangene auszutauschen

 26.03.2024

Glosse

Woher stammt der Minderwertigkeits-komplex vieler Schweizer gegenüber Deutschen?

Und was verbindet die Identitätskarte mit der Rappenspalterei?

von Nicole Dreyfus  25.03.2024

Schweiz

Antisemitismus-Problem an Schulen

Die Zahlen sind erschreckend, doch die Stadt Bern wiegelt ab. Und jüdische Eltern verlieren das Vertrauen

von Nicole Dreyfus  24.03.2024

Großbritannien

»Beste Wünsche für eine Refua Schlema«

Oberrabbiner Sir Ephraim Mirvis und das Board of Deputies wenden sich nach ihrer Krebsdiagnose an Prinzessin Kate

 24.03.2024 Aktualisiert

Jubiläum

Mehr als koscheres Pastrami-Sandwich

New York feiert in diesem Jahr seinen 400. Geburtstag. Eine Reise durch die jüdische Geschichte der Stadt

von Hannes Stein  23.03.2024