Schweiz

Röschti-Graben

Couscous, Röschti oder Spaghetti: Jeder mag auf seine Art selig und satt werden. Foto: Frank Albinus

Wenn sich in der Schweiz Politiker, Künstler oder Sportler aus allen Landesteilen zu Kongressen oder Versammlungen treffen, spricht in der Regel jeder so, wie ihm oder ihr der Schnabel gewachsen ist. Die Deutschschweizer Deutsch, die Welschen Französisch und die Tessiner nicht selten Italienisch.

In der offiziell viersprachigen Eidgenossenschaft soll unbedingt jeder nach seiner Sprach-Façon selig werden, so haben es die Gründerväter seinerzeit festgelegt. Falls nötig, überbrücken professionelle Übersetzer die Barrieren zwischen den Landesteilen.

Die Mehrheit der rund 18.000 jüdischen Schweizer spricht das bekannte Schwizerdütsch. Denn die meisten von ihnen wohnen in der Deutschschweiz, vor allem im Großraum Zürich. In der jüdischen Dachorganisation des Landes, dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), wird auf die französischsprachige Minderheit jedoch stark Rücksicht genommen.

Zwar sind von den 17 Mitgliedsgemeinden nur vier in der Westschweiz angesiedelt, doch wird in der Geschäftsleitung des SIG peinlich genau darauf geachtet, dass mindestens zwei der sieben Sitze jeweils von Vertretern der großen Gemeinden in der Westschweiz besetzt werden. Im Moment sind es sogar drei.

abschreckung Vermutlich ist es kein Zufall, dass zwei der drei aktuellen Vertreterinnen, Evelyne Morali (Lausanne) und Sabine Simkhovitch-Dreyfus (Genf), aus Basel stammen und deutscher Muttersprache sind. »Ohne sehr gute Deutschkenntnisse ist eine Tätigkeit in der Geschäftsleitung praktisch nicht möglich«, meint Simkhovitch-Dreyfus, die seit rund 35 Jahren in Genf lebt. Deutsch sei nun einmal – allem Minderheitenschutz zum Trotz – die Mehrheitssprache des Landes.

Das schränke die Auswahl bei potenziellen französischsprachigen Kandidaten für Leitungsfunktionen innerhalb des Gemeindebundes stark ein: »Viele Interessenten, die kein Deutsch beherrschen, werden so abgeschreckt.«
Bei den Schweizer Juden hat sich seit einigen Jahren eben der »Couscous-Graben« ausgebreitet – es ist dies das sefardische Pendant zum »Röschti-Graben«, den die Schweiz schon seit Längerem kennt.

Gemeint ist damit, dass sich die Zugehörigkeit zu einer Ethnie auch über den Magen definiert: So mag »der« Genfer eben keine Röschti (das sind goldgelb gebratene Kartoffeln, oft in Kombination mit einer deftigen Wurst). »Der« Zürcher – gleich welcher Religion – tut sich schwer mit Couscous, der reisähnlichen Speise, die in Nordafrika so häufig auch auf jüdische Tische kommt.

Im übertragenen Sinne zeigt dieser kulinarische Graben, wie unterschiedlich die Denkweisen zwischen Deutsch- und Westschweizer Juden sind, denn hier prägen sich die soziologischen Unterschiede aus. In Genf und Lausanne leben mittlerweile viele sefardische Juden aus Nordafrika oder Frankreich, die in den 60er- bis 90er-Jahren eingewandert sind. Menschen aus Tunis, Casablanca oder Marseille, in deren Ohren die Sprache Goethes und Schillers ziemlich exotisch klingt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Medien keine Klammer bilden.

Eine große nationale zweisprachige Zeitung fehlt, dies gilt auch für die jüdische Szene. Die Zeiten, in denen Genfer Juden mit deutscher Muttersprache eine jüdische Zeitung aus der Deutschschweiz abonnierten, um über die Aktivitäten jenseits der Sprachgrenze informiert zu sein, sind lange vorbei.

Anglizismen Der Mangel an einer gemeinsamen Sprache wirkt sich auch im innerjüdischen Alltag aus: So kürzt sich der Jüdische Studentenverband der Schweiz SUJS ab. Das steht für Swiss Union of Jewish Students. Entsprechend kommunizieren die Vorstandsmitglieder untereinander auf Englisch, weil sie die offiziellen Landessprachen zu wenig beherrschen. »Dass Englisch gesprochen wird, war immer unbestritten«, sagt

SUJS-Vorstandsmitglied Rahel Schneider aus Basel. Sie bekennt freimütig, was heute von vielen Deutschschweizern der jüngeren Generation oft zu hören ist: »Mehr als mein Schul-Französisch kann ich nicht, und das reicht für eine flüssige Kommunikation in der Regel kaum aus.« Gerade bei Baslern mutet dies etwas seltsam an, denn die Grenze zu Frankreich befindet sich unmittelbar am Stadtrand.

Umgekehrt sind junge Westschweizer – auch jüdische – oft verwirrt: Dann nämlich, wenn sie die Hochsprache Deutsch lernen und feststellen müssen, dass sie damit in den Deutschschweizer Städten bei ihren Altersgenossen nur mäßig ankommen – denn die sprechen den Dialekt.

Barriere Die zunehmenden Sprachbarrieren zwischen Deutsch- und Westschweizer Juden verhindern auch einen größeren Austausch etwa kultureller Events unter den Gemeinden rechts und links der Sprachgrenze. So könnte der Philosoph Bernard-Henri Lévi bei einer Lesung in einer der Westschweizer Gemeinden sicher für volle Säle sorgen – kaum aber in Zürich oder Basel, wo umgekehrt etwa ein Henryk M. Broder gern gesehen ist. »Henri qui?«, würden dagegen vermutlich viele Gemeindemitglieder in Genf fragen, käme der streitbare Publizist je für einen Vortrag zur jüdischen Gemeinschaft an die Rhone.

Eine der wenigen gemeinsamen Veranstaltungen, die sich seit Langem in der Gunst des jüdischen Publikums halten kann, ist das alljährliche Jugend-Fußballturnier. Das runde Leder verbindet eben – auch in der vielsprachigen Schweiz.
Wie bei den Studenten wird mittlerweile ebenso beim Fußball oft Englisch gesprochen. Das ist in der UNO-Stadt Genf ohnehin eine Art zweite Lokalsprache, auch in jüdischen Kreisen. So verfügt die liberale Gemeinde der Stadt seit einiger Zeit über eine englischsprachige Gruppierung innerhalb der Gemeinde. »Englisch hat in allen jüdischen Gemeinden in Genf als Sprache stark zugenommen«, bestätigt auch Sabine Simkhovitch-Dreyfus.

Das Gleiche gilt auch für die italienische Schweiz, die allerdings mit Lugano nur eine einzige Gemeinde aufzuweisen hat, die allerdings massive Abwanderungsprobleme plagen. Chabad-Rabbiner Jakov Kantor, selbst englischer Muttersprachler, versucht, im Gemeindeleben sowohl das Englische wie auch das Italienische zu berücksichtigen. »Viele Gemeindemitglieder italienischer Muttersprache gibt es hier allerdings nicht mehr«, sagt Kantor. An den Hohen Feiertagen höre man in der Synagoge oft deutlich mehr Englisch oder Deutsch als Italienisch.

Der Bankenplatz Lugano sei heute eben eine sehr internationale Stadt. Auch um den Kontakt mit den Behörden zu vereinfachen, sind alle Veranstaltungseinladungen von Chabad zweisprachig gehalten. Kantors Frau Yuti, die aus Zürich stammt, hat inzwischen damit begonnen, Jugendliche auch in Italienisch zu unterrichten.

So kommt denn bloß die am wenigsten verbreitete der vier Nationalsprachen in der jüdischen Gemeinde nicht zum Zug: das praktisch nur im Kanton Graubünden gesprochene Rätoromanisch. Für Juden besteht die Chance, diese Sprache zumindest einmal zu hören, nur dann, wenn sie sich entschließen, im Urlaub in einer der rätoromanischen Dörfer ein Haus oder eine Wohnung zu mieten und sich unters Bergvolk zu mischen.

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