Argentinien

Qual der Wahl

Am 28. September in Buenos Aires: Das Bündnis »Together for Change« unterstützt die Wiederwahl von Präsident Mauricio Macri. Foto: imago images/ZUMA Press

Victor Lebendiker ist sich fast sicher, wen er am 27. Oktober wählen wird – aber die Entscheidung ist ihm nicht leicht gefallen: »Ich glaube, ich werde für Fernández und Fernández stimmen, auch wenn ich nicht wirklich mit ihnen sympathisiere«, sagt der Rentner aus Buenos Aires.

»Fernández und Fernández«, das sind der Präsidentschaftskandidat Alberto Fer­nández mit seiner Vize-Kandidatin Cristina Fernández de Kirchner.

Die politisch einflussreiche Linksperonistin regierte Argentinien bis 2015, aber hat sich gegen eine erneute Präsidentschaftskandidatur entschieden. Stattdessen trug sie diese ihrem einstigen Kabinettschef Alberto Fernández an – mit dem sie jahrelang zerstritten war – und bewirbt sich selbst um das Amt seiner Stellvertreterin.

Korruption Victor Lebendiker – Argentinier aus jüdischer Familie – überzeugt das alles nicht sonderlich, zumal er Cristina Fernández de Kirchner als »zwar fähige, aber autoritäre und unehrliche« Präsidentin in Erinnerung hat. Ihn störten in ihrer Amtszeit auch die Korruption und die häufigen Verbalattacken des »Kirchnerismus« gegen Journalisten und Andersdenkende.

Was er von einem Präsidenten Alberto Fernández zu erwarten hätte, weiß Lebendiker – wie die meisten Argentinier – nicht so genau. Dennoch wird er sein Kreuzchen wohl bei »Fernández und Fernández« machen, denn vom liberal-konservativen Amtsinhaber Mauricio Macri, der erneut antritt, ist er zutiefst enttäuscht: »Ich hätte nie gedacht, dass er so schlecht regieren wird. Macri hat vor vier Jahren ein Land mit vielen Problemen übernommen. Aber statt sie zu lösen, hat er sie in ungeahnte Dimensionen gesteigert«.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Mauricio Macri so schlecht regieren wird.« Victor Lebendiker

Außer der Armenschicht – offiziellen Zahlen zufolge mehr als 35 Prozent der Bevölkerung – seien die Mittelschicht und insbesondere auch die Rentner von der verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik betroffen, klagt Victor Lebendiker.

Er selbst bezieht eine Rente von umgerechnet 250 Euro, die mit der galoppierenden Inflation, gerade mit den häufigen Preiserhöhungen bei Lebensmitteln, kaum mithalten kann: »Die allermeisten Rentner kommen mit ihrer Rente nicht aus und sind auf die Hilfe von Angehörigen angewiesen, wenn sie nicht selbst ein paar Ersparnisse haben«.

Inflation Wirtschaftskrise, Währungs-Abwertungen, Inflation und Kaufkraftverlust – für all diese Probleme hat Präsident Macri bei den Vorwahlen im August die Quittung erhalten: Mit knapp 33 Prozent unterlag er seinem Herausforderer Alberto Fernández deutlich – dieser erhielt gut 49 Prozent der Wählerstimmen. Falls Fernández dieses Ergebnis Ende Oktober wiederholt – was als wahrscheinlich gilt –, wird er am 10. Dezember in Argentinien die Regierungsgeschäfte über­nehmen. Und Cristina Fernández de Kirchner, derzeit Senatorin, würde als Vize-Präsidentin auch das Amt der Senatspräsidentin bekleiden.

Gegen Fernández de Kirchner laufen mehrere Korruptionsverfahren, die – wenn sie weiterhin politische Ämter bekleidet – aller Voraussicht nach im Sande verlaufen werden. Im Wahlkampf hat sich die Ex-Präsidentin bisher auffallend zurückgehalten, während Alberto Fernández immer selbstsicherer aufgetreten ist.

Wer von beiden politisch den Ton angeben wird, falls das Duo die Wahl gewinnt, darüber kann nur spekuliert werden. »Ich bin sicher, dass er ein gemäßigterer Politiker ist als sie«, meint Victor Lebendiker.

Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Argentiniens – der größten Lateinamerikas – ist die Stimmungslage so gemischt wie in der gesamten Gesellschaft des Landes. Ein Teil der argentinischen Juden will Mauricio Macri noch eine Chance geben, ein anderer setzt auf »Fernández und Fernández«, und wieder andere jüdische Wähler vertrauen Ex-Wirtschaftsminister Roberto La­vagna – auch er ein Peronist – oder aber Präsidentschaftsbewerbern aus dem linken oder rechten politischen Lager.

Jüdische Politiker und hochrangige Funktionäre gibt es in fast allen politischen Parteien Argentiniens. Die Regierung von Mauricio Macri und die führenden Institutionen der jüdischen Gemeinschaft – der Dachverband DAIA und der Sozialverband AMIA – haben in den vergangenen vier Jahren ein gutes Verhältnis gepflegt. Wie DAIA und AMIA würde sich wohl auch der von dem argentinischen Adrián Werthein geleitete Lateinamerikanische Jüdische Kongress (CJL) Macris Wiederwahl wünschen.

Hisbollah Anlässlich des 25. Jahrestags des Attentats auf die AMIA im Juli hatte der Präsident Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in den Regierungspalast geladen. Bei dieser Gelegenheit lobte Wert­hein Macris Regierung, die kurz zuvor die Hisbollah, die an dem Anschlag beteiligt gewesen sein soll, auf die Liste terroristischer Organisationen gesetzt hatte. Werthein sprach quasi eine Wahlempfehlung für Macri aus, als er sagte: »Nicht alles ist Wirtschaft. Bei der Wahlentscheidung sind auch die Werte wichtig.« Eine Rückkehr von Cristina Fernández de Kirchner an die Macht – wenn auch »nur« als Vize-Präsidentin – wäre für die Spitzen der jüdischen Gemeinschaft sicherlich schwer zu verdauen.

Das Verhältnis war zunehmend belastet, nachdem 2013 Fernández de Kirchner und ihr jüdischer (mittlerweile verstorbener) Außenminis­ter Héctor Timerman mit dem Iran Zusammenarbeit bei der Aufklärung des AMIA-Attentats vereinbart hatten. Auf Bestreben von DAIA und AMIA erklärte die argentinische Justiz dieses »Memorandum« 2015 für verfassungswidrig.

Cristina Kirchners Rückkehr wäre für Juden schwer zu verdauen.

In einem der zahlreichen Gerichtsverfahren gegen Cristina Fernández de Kirchner geht es um die angebliche Absicht der Ex-Präsidentin, durch die Vereinbarung mit dem Iran das Attentat von 1994 zu »verschleiern«. Das hatte ihr Staatsanwalt Alberto Nisman vorgeworfen, bevor er Anfang 2015 tot aufgefunden wurde.

Der Dachverband DAIA tritt in der Causa gegen Fernández de Kirchner als Kläger auf. Es gibt aber auch jüdische Organisationen, wie etwa Llamamiento Argentino Judío, die der Ex-Präsidentin nahestehen und für die die Vorwürfe gegen sie völlig haltlos sind.

Kein Zweifel: Die jüdische Gemeinschaft ist so gespalten wie die ganze argentinische Gesellschaft. In Wahlkampf-Zeiten wird das besonders deutlich.

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