Analyse

Putins antisemitische Fantasien

Der russische Präsident Wladimir Putin Foto: picture alliance/dpa/TASS

Er hat es wieder getan. In seiner Jahrespressekonferenz am 18. Dezember erhob Wladimir Putin scharfe Vorwürfe gegen »ethnische Juden«, die angeblich in der Ukraine regieren und die russisch-orthodoxe Kirche verfolgen würden. Diese Äußerungen bezogen sich auf das Verbot der dem Moskauer Patriarchat unterstellten, russlandtreuen Kirche Ende August 2024. Die ukrainische Führung wirft dieser Kirche vor, den russischen Krieg zu unterstützen. Putins wiederholte Anspielungen auf die jüdische Herkunft des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj haben längst Tradition. Doch seine jüngsten antisemitischen Entgleisungen erreichen eine neue Qualität.

Der verbale Angriff richtete sich offensichtlich nicht nur gegen Selenskyj, dessen Name Putin nicht einmal erwähnte, sondern auch gegen die graue Eminenz der ukrainischen Politik, den Chef des Präsidialamtes Andrij Jermak. Dieser wird in Russland häufig als die eigentliche Schlüsselfigur der ukrainischen Politik dargestellt.  

Selenskyj und Jermak machen kein Geheimnis aus ihrer jüdischen Herkunft

Selenskyj und Jermak machen kein Geheimnis aus ihrer jüdischen Herkunft. Während Jermak in der Ukraine gelegentlich von radikalen Nationalisten aufgrund seiner jüdisch-russischen Wurzeln angegriffen wird (seine russische Mutter stammt aus Leningrad), tritt er selbstbewusst als »Vaterjude« auf.  In dieser Rolle kritisiert er Israel, der aus seiner Sicht viel zu wenig für die Ukraine tue, und stilisiert Putin zu einem notorischen Judenhasser.

Am 18. Dezember wurde der russische Staatspräsident diesem Ruf tatsächlich gerecht, denn er griff gleich zwei althergebrachte antisemitische Feindbilder auf: Einerseits wurden »gottlose Juden« aus der Ukraine als erbitterte Gegner des orthodoxen Christentums dargestellt. Damit knüpfte Putin an traditionelle, in russisch-orthodoxen und rechtsradikalen Kreisen weit verbreitete antijüdische Vorstellungen an.

Infame spätstalinistische Erzählung von den »wurzellosen Kosmopoliten«

Andererseits bezeichnete er diese »Juden« nicht nur als »gottlos«, sondern zugleich als »wurzellos«. Mit dieser abstrusen antisemitischen Chiffre rekurrierte Putin offenbar auf die infame spätstalinistische Erzählung von den »wurzellosen Kosmopoliten«, die in der sowjetischen antisemitischen Kampagne der späten 40er- und frühen 50er-Jahre eine zentrale Rolle spielte.

Putins wiederholter Antisemitismus hat sowohl persönliche als auch politische Hintergründe. In der zweiten Hälfte der 70er- und in den 80er- Jahren wurde der spätere russische Staatspräsident im sowjetischen KGB beruflich sozialisiert – einer Institution, in der antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien, etwa die Idee einer »jüdischen Vorherrschaft im Westen«, fest verankert waren. So wurde der Untergang der kommunistischen Supermacht UdSSR als eine bittere Niederlage im Kampf gegen die vermeintlich jüdisch dominierten USA und deren Partner wahrgenommen. Diese Denkmuster hat Putin offenbar verinnerlicht.

Dennoch zeigte er sich als Staatschef über Jahren hinweg jedoch bewusst judenfreundlich, ja geradezu philosemitisch. Damals war er auf einen Ausgleich mit dem »Weltjudentum« bedacht. Doch mit dem Überfall auf die Ukraine und dem damit verbundenen Bruch mit dem Westen verschwand nach und nach diese Haltung.

Wladimir Putin ist enttäuscht – von der jüdischen Diaspora im Westen, die er ursprünglich für sich gewinnen wollte und die jedoch größtenteils  mit der von Russland angegriffenen Ukraine sympathisiert; von Israel, der sich wiederum auf die Seite der Ukraine gestellt hat und das russische Narrativ von den »ukrainischen Nazis« ablehnt; von etlichen russischen Juden, die nach 2022 die Russische Föderation verlassen. Diese Abwanderung wird von Machthabern offenbar als Verrat einer neuen Generation »wurzelloser Kosmopoliten« gedeutet.

Virulenter Hass gegen »die Juden« in der ukrainischen Führung

Putin wird zudem vom virulenten Hass gegen »die Juden« in der ukrainischen Führung getrieben, die seine geopolitischen Ambitionen durchkreuzt haben und für ihr Land entschlossen kämpfen. Hinzu kommen judenfeindliche Ressentiments in der russischen Gesellschaft, die Moskau noch gezielt zu schüren versucht.

So greift der Kreml-nahe Politikwissenschaftler Sergej Markow Putins antisemitische Erzählungen begeistert auf und fabuliert von möglichen Judenpogromen in der Ukraine. Die antisemitische Hetze, die sich im Kontext der Verschärfung des Nahostkonflikts erheblich verstärkte, scheint in Russland zu wirken: Dort lässt sich inzwischen ein signifikanter Anstieg des Antisemitismus beobachten.

Die Antwort aus Kiew auf Putins jüngste Tiraden ließ nicht lange auf sich warten. Der Kremlchef spielt mit dem Antisemitismus, weil er die jüdische Herkunft der ukrainischen Führung als Makel und Schwachstelle betrachtet.

Der 53-jährige Jermak und der 46-jährige Selenskyj haben aber längst eine Schwachstelle beim 72-jährigen Putin identifiziert. Der russische Präsident, der sich gern als jung, sportlich und dynamisch inszeniert, wird von ihnen als ein geistig schwacher, alter Mann dargestellt, der jeglichen Kontakt zur Realität verloren habe. Selenskyj bezeichnet Putin offen als »Trottel«, Jermak beschriebt ihn sogar als »Degenerierten«. Man kontert den Antisemitismus mit Ageismus und Ableismus.

Der Vorfall ereignete sich vergangene Woche im AZ Zeno Campus-Krankenhaus in Knokke-Heist in Belgien.

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