Türkei

Prinzip Hoffnung

Die meisten türkischen Juden leben in Istanbul. Blick über die Galatabrücke Foto: Thinkstock

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Prinzip Hoffnung

Die Gemeinde begrüßt Ankaras Annäherung an Israel. Doch Antisemitismus und Terror bleiben präsent

von Cigdem Toprak  02.05.2016 16:45 Uhr

In einer Zeit, da sich die Türkei in ihrer Nachbarschaft zunehmend isoliert fühlt, nähert sie sich dem alten Verbündeten Israel wieder an. Seit der Staatsgründung Israels pflegten Ankara und Jerusalem stets gute und stabile Beziehungen. So erkannte die Türkei 1949 als erstes muslimisches Land Israel an, und ab 1996 arbeitete man auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet eng zusammen. Doch als die türkische »Mavi Marmara« im Mai 2010 die Gaza-Blockade durchbrach, israelische Soldaten das Schiff stürmten und zehn Türken dabei umkamen, war es aus mit dem guten Verhältnis. Die diplomatischen Beziehungen wurden auf Eis gelegt, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan äußerte sich in den darauffolgenden Jahren verstärkt israelfeindlich.

Inzwischen sind beide Staaten darum bemüht, die Beziehungen wieder zu normalisieren. Die Türkei wünscht von Jerusalem eine Entschuldigung für den Angriff auf die »Mavi Marmara«, Kompensationszahlungen an die Opfer und die Aufhebung der Gaza-Blockade. Israel hingegen fordert Ankara auf, gegen alle Hamas-Zellen in der Türkei vorzugehen.

Beide Staaten teilen gemeinsame Interessen: den Kampf gegen den Islamischen Staat, die Balance gegen die Macht des Iran und die Wiederherstellung der Stabilität in Syrien und dem Irak. Außerdem wollen sie auf dem Gebiet der Energiewirtschaft zusammenarbeiten. Die verschlechterten Beziehungen zwischen Ankara und Moskau machen die Türkei von Israel als alternativem Energielieferanten abhängig.

Geostrategie Die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Ankara und Jerusalem ist nicht nur von geostrategischer Bedeutung für beide Staaten, sondern sie liegt auch im Interesse der schrumpfenden jüdischen Gemeinde in der Türkei, denn sie wird verstärkt von islamistischem Terror und Antisemitismus bedroht.

Nach einem Treffen mit Funktionären amerikanisch-jüdischer Organisationen sagte Erdogan kürzlich in einem CNN-Interview, dass der Antisemitismus ein Verbrechen sei – aus seiner Sicht ein ebensolches wie die Islamophobie. Er versicherte in dem Gespräch, dass die jüdische Gemeinschaft in der Türkei geschützt sei.

Allerdings war es kein Geringerer als Erdogan selbst, der im Juli 2014 die Juden im Land aufrief, Israel für die Vorfälle in Gaza zu verdammen. Simon Waldman, Türkei- und Israel-Experte am King›s College in London, sagt, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in der Türkei betonten doch nun immer wieder, dass sie türkische Staatsbürger sind. »Dass sie in irgendeiner Weise mit Israels Politik in Verbindung gebracht werden, ist – gelinde gesagt – sehr irreführend.« Die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei basierten auf politischen und wirtschaftlichen Interessen, nicht auf dem türkischen Judentum, so Waldman weiter.

Seit einigen Jahren hat die jüdische Gemeinschaft in der Türkei zunehmend mit Antisemitismus in den sozialen Medien zu kämpfen. Neben den altbekannten Vorurteilen und Verschwörungstheorien werden die türkischen Juden im Internet für Israels Politik und die Vorfälle in Gaza verantwortlich gemacht.

Das beklagt auch die türkisch-jüdische Journalistin Karel Valansi. In einer Politik-Talkshow auf CNN Turk betonte sie, dass eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen im Interesse der Juden in der Türkei sei. »Was in Gaza passiert, beeinflusst uns direkt. Bei den letzten Vorfällen dort wurde unsere Synagoge in Beyoglu von einem Lehrer mit den Worten ‹Ein Ort, der einstürzen soll› beschmiert«, so Valansi. Der Lehrer sei übrigens nach wie vor im Amt.

Is-Kämpfer Die jüdische Gemeinde und israelische Touristen sind in der Türkei einer ernsthaften Gefahr durch den islamistischen Terror ausgesetzt. So wurde nach der Verhaftung von sechs IS-Kämpfern in der südtürkischen Stadt Gaziantep bekannt, dass der Islamische Staat gezielt Anschläge auf jüdische Schulen und Kindergärten in der Türkei plant.

Beim jüngsten Anschlag auf der beliebten Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im Herzen Istanbuls wurden im März drei Israelis und ein Iraner getötet. Elf Israelis wurden verletzt, nachdem ein IS-Anhänger die Touristen verfolgt und sie sich bewusst als Anschlagsziel ausgesucht hatte.

»Lange Zeit wussten wir nicht, ob die Bedrohung real oder nur eingebildet war«, sagt die Hurriyet-Daily-News-Kolumnistin Selin Nasi, die auch für die jüdische Zeitschrift Salom schreibt. Als sich aber herausstellte, dass gezielt Juden bedroht werden, suchte die Gemeinde Unterstützung bei der Regierung, die ihr zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen für Schulen und Synagogen versprach.

Waldman bewertet die Unterstützung der AKP gegenüber der jüdischen Gemeinde als Lippenbekenntnis. »Statt zu verkünden, dass die Osmanen die Juden in der Türkei nach ihrer Vertreibung aus Spanien begrüßten, wäre es viel besser, wenn es für die jüdische Gemeinde konkrete und reale Unterstützung gäbe, sowohl rhetorisch als auch praktisch.« Die Gemeinde sei gefährdet, meint Waldman. Es gebe schließlich Präzedenzfälle von Angriffen radikaler Islamisten auf jüdische Ziele. »Erinnern wir uns an die Al-Qaida-Anschläge 2003 auf zwei Synagogen in Istanbul, bei denen Dutzende Menschen starben.«

Die unsichere Lage in der Türkei und die autoritären Tendenzen der türkischen Regierung bewegen vor allem junge, gebildete Türken dazu, das Land in Richtung Westen zu verlassen. Die Frage, ob auch junge Juden darüber nachdenken, auszuwandern, beantwortet Waldman knapp: »Sie tun es bereits.«

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