Frankreich

Paris ohne Filter

Mit der Katze des Rabbiners auf der Staffelei: Joann Sfar bei der Arbeit in seinem Atelier Foto: Getty Images


Kennen Sie den? Es ist Schabbat, der Rabbi liegt im Bett und freut sich auf die Liebesnacht mit seiner Frau. Da klopft Mosche aus seiner Gemeinde an die Tür: »Rabbi, ich hab’ ein Problem«, quengelt er. Der Rabbi zieht sich das Kissen über den Kopf, verdreht die Augen, aber Mosche jammert weiter, lauter nun: »Ich schulde Yaakov 400 Rubel. Ich kann sie ihm aber nicht geben, weil ich sie nicht habe.« Der Rabbi öffnet das Fenster und schreit hinüber zu Yaakov: »Mosche kann dir die 400 Rubel nicht geben, weil er sie nicht hat«, und legt sich wieder ins Bett.

So funktioniert das mit der Schlaflosigkeit: Man gibt sie einfach weiter. Joann Sfar amüsiert sich köstlich, als er diese Geschichte Studenten aus Bordeaux erzählt. Schließlich bringt er täglich seine höchstpersönlichen wilden Gedanken und Träume zu Papier oder auf die Leinwand.

NERVENKITZEL Sfar ist nicht nur ein Star der französischen Comic-Szene, sondern auch Regisseur und Romancier. Der Trick des Audiovisuellen liege genau darin, meint Sfar, dass man die eigenen Dämonen und Kuriositäten auf die Leser und Zuschauer überträgt.

An Stoff für Nervenkitzel scheint es Sfar nicht zu mangeln. Bereits in den 90er-Jahren gründete er mit den Zeichnern Lewis Trondheim und David B. den unabhängigen Künstlerverlag »L’Association« und trug damit wesentlich zur Erneuerung des franko-belgischen Comics bei. Inzwischen hat er mehr als 160 Bücher verfasst.

Den Beweis, dass Comics eine besondere Kunstform sind, braucht er längst nicht mehr zu erbringen. Im Basler Cartoonmuseum wurde ihm vergangenes Jahr eine große Überblicksausstellung mit mehr als 200 Zeichnungen, Aquarellen, Malereien und Filmausschnitten gewidmet.

UNIVERSUM Sein zeichnerisches Universum bevölkert Sfar mit Gestalten, die seinen Lesern seit Jahrzehnten Albträume und Lachsalven bescheren. An vorderster Front agiert dabei Die Katze des Rabbiners, die, nachdem sie einen Papagei verschluckt hat, plötzlich zu sprechen beginnt. Sfar siedelt diese Comic-Reihe im Algier des frühen 20. Jahrhunderts an und legt der Katze der Rabbinertochter Zlabya so manche Schelmerei ins freche Mäulchen.

Als ihm die vorlauten Fragen zu bunt werden, verpflichtet der Rabbi die Katze zum Studium der Tora, damit sie endlich eine gute jüdische Katze werde. Bei Katzen aber, denen man nun beileibe kein hündisches Wesen nachsagen kann, bedarf es außerordentlicher Überzeugungskraft, um sie für eine Sache zu gewinnen.

Dem aufmüpfigen Wesen widmet sich der Rabbiner schließlich mit maßgeschneidertem Einzelunterricht. Eine wahre Herausforderung, da die Katze auch dem geringsten theologischen Widerspruch auf die Spur kommt.

STUBENTIGERIN Die kratzbürstige Stubentigerin ist aber nicht die Einzige, die die Nerven des guten Rabbiners strapaziert. Ungläubige Pariser, ein Neffe, der sich als Araber ausgibt, und ein russischer Künstler reißen ihn hinein in ein Abenteuer, das bis in ein verborgenes schwarzafrikanisches Jerusalem führt.

Quelle seiner Inspiration sind eigene Konflikte und Familiengeschichten.

Gefragt nach der Quelle seiner Inspiration, scheut sich Sfar nicht, das eigene Leben, die eigenen Konflikte und Familiengeschichten ins Feld zu führen.

Autofiktionales Schreiben, die Verflechtung autobiografischer Begebenheiten mit fiktionalen Zügen, hat in Frankreich Tradition. In Sfars Werk findet dieses Genre eine besondere Ausprägung.

BIOGRAFIE Groß geworden ist Sfar mit einem sefardischen Vater, einem Anwalt, der in Algerien aufwuchs und später in Nizza seinen Beruf ausübte. Die Mutter, eine aschkenasische Jüdin aus der Ukraine, starb, als der Sohn erst vier Jahre alt war.

Lange Zeit war Joann Sfar ein schweigsames Kind, das sich dem gestrengen Vater gegenüber verschloss. Mit der Katze des Rabbiners schuf er zwar kein Alter Ego, aber doch eine Figur, die seine kindliche Schüchternheit und Introvertiertheit durchbricht.

Der Comiczeichner schlüpft nicht selten in die Rolle seiner Protagonisten. Mal identifiziert er sich mit dem Rabbi, mal mit der Tochter und dann wiederum mit der Katze. Ein küchenpsychologisches Desaster möchte man meinen, wenn nicht Sfar selbst seine Vorliebe für Fallstricke und Fettnäpfchen der Psychoanalyse kundtun würde.

PHANTOM In seinem jüngsten Buch Le dernier juif d’Europe (Der letzte Jude Europas), das im Februar im Pariser Verlag Albin Michel erschien, gibt es sogar eine von einem Phantom geschiedene Psychologin, die sich mit einem 100-jährigen Vampir vergnügt. Auf die Spitze treibt es Sfar aber mit dem Vater, der kein Jude mehr sein will, sich die Vorhaut rekonstruieren lässt und daraufhin zum Antisemiten mutiert.

Das klingt absurd, aber erwächst wie viele Anekdoten Sfars aus der Wirklichkeit. Einem Freund, der sich wegen seiner Beschneidung diskriminiert fühlte, habe er zu einer »De-Zirkumzision« geraten. Ein Ding der Unmöglichkeit für einen Chirurgen der Real World, eine nicht unwahrscheinliche Praxis dagegen in Sfars »Monster World«, einer Welt, in der nichts uns mehr erstaunt.

Dieses überdrehte, von durchgeknallten Figuren bevölkerte Paris ähnelt mehr unserer Wirklichkeit, als uns lieb ist. Von Blutsaugern und Feuerspuckern abgesehen, quälen wir uns mit den gleichen Problemen herum wie die aus schwarzer Tinte geborenen Comic-Gestalten. Liebeskummer, Trennungen, politische Querelen martern Pariser und Monster-Weltler gleichermaßen. Weder Rabbiner noch Psychologen werden dieses Heers von Stadtneurotikern Herr.

PARADOXON Und wie könnte es auch anders sein, treiben auch noch die üblichen antisemitischen Verdächtigen ihr Unwesen. Mit Schildern ziehen sie durch die Stadt und verkünden lauthals ihre Parolen: »Dreckiger Jude, wir sind keine Antisemiten!« Ein Paradoxon, das kurz und knackig die Pharisäerhaftigkeit so manch eines braven, ach so judenfreundlichen Mitbürgers entlarvt.

Mehr aber noch als Antisemitismus ist Sfar Philosemitismus zuwider, denn das Böse verschwindet nicht einfach, indem man es in sein Gegenteil verkehrt und ostentativ vor sich herträgt.

Hinzu kommt, dass Sfar ein ganz besonderes Faible für den »Karneval des Schreckens« und speziell das Böse hat. Die Frage, warum er keine Geschichte mit einem bösen Hitler schreiben würde, beantwortet Sfar sich selbst: Ganz einfach, weil er das Böse liebe und er selbst aus Hitler nach 20 Seiten einen netten Typen machen würde.

SCHWARZ-WEISS Schwarz-Weiß-Zeichnung ist Sfars Sache nicht, den einfachen Federstrich samt klarer Konturen überlässt er anderen. Er experimentiert, aquarelliert und lässt die Tuschfeder auf dem Blatt erzittern.

Das überdrehte Paris in seinem jüngsten Buch ähnelt der Wirklichkeit.

Seine Zeichnungen zeugen von einer rohen, ungefilterten Energie, die sich jeder Schematisierung verweigert. Sfar, der Philosophie studiert und außerdem ein Diplom an der Kunsthochschule erworben hat, jongliert mit Mehrdeutigkeiten.

Vielschichtigkeit ist ihm lieber als Gleichförmigkeit und Monotonie. Man brauche ein Behältnis für die Wildheit und die Barbarei. Kunst mache man nicht aus Geleefrüchten, sondern aus dem Ekelhaftesten und Bizarrsten. Ans Eingemachte gehe es da!

Sfars Leben aber könnte geregelter nicht sein. Routine gibt ihm Struktur und vor allem die von jedem Künstler heiß begehrte »magische Kraft«. Die wiederum sieht er ganz nüchtern: Ohne Routine verflüchtigt sie sich von selbst.

Sfar steht morgens auf und kümmert sich als Erstes um die Tiere: drei adoptierte Katzen, einen Hund und die Fische seines Sohnes. Dann beginnt er zu schreiben, und zwar mit eiserner Disziplin, und serviert seiner Freundin zwischendurch Tee ans Bett.

CORONA Auch die in Frankreich über Wochen herrschende strikte Ausgangsbeschränkung änderte nichts an Sfars Routine, im Gegenteil: keine Ablenkung, mehr Zeit für die finsteren Gesellinnen in Sfars Zeichnungen.

Wirbel allerdings verursacht seit Kurzem Ilyusha Sfar-Lacoste. Der kleine Sohn, geboren in Corona-Zeiten, hält sich nicht an Papas Routine, inspiriert aber ungemein. Plötzlich tauchen unheimliche Babys in Sfars Geschichten auf, und Tintenfisch-Plüschtiere strecken ihre Tentakel aus. Chaos aber hat keine Chance bei Sfar.

Comics zu zeichnen oder eine philosophische Dissertation zu verfassen, sei letztlich das Gleiche. Sein Motor sei die Ungezähmtheit, doch die Umsetzung seiner Ideen und Gedanken erfolge nach Plan. »Ich bin eine Art Schimmel«, sagt Sfar, »sobald eine Tür aufgeht, dringe ich ein.«

DURCHHALTEVERMÖGEN Hartnäckig und ein wenig garstig ist er, und das mit einem erstaunlichen Durchhaltevermögen. Sechs bis acht Stunden zeichnet er am Tag, auch nachts ist er verfügbar für seine Mitarbeiter und Kollegen, die ihm Skizzen und Texte schicken.

Für Nachtschattengewächse und Untote hat Sfar ohnehin eine besondere Vorliebe: Durch seine Texte schwirren Vampire – allen voran seine Lieblingsvampirin Aspirine und ihre Schwester Ritalina.

Wie alle Bewohner in Sfars Comic-Kosmos haben auch diese beiden ihr Päckchen zu tragen. Aspirine steckt in einer immerwährenden Pubertät fest, und Ritalina quält sich mit einem chauvinistischen Wolf ab. Fast wie im wirklichen Leben.

In Aspirines kleine und größere Malheurs weiht uns Sfar täglich auch auf seinem Instagram-Account ein. Da ist die süße Vampirin zum Hausarrest verdammt, weil sich draußen die Hexenjäger auf Hatz begeben. »Verstehst du«, klagt das Schwesterchen, »man kann überhaupt nichts machen!« Und natürlich: »Ich darf mich dir nicht nähern. Vielleicht bin ich ansteckend.« Altbekannte Klagen, vertraute Sorgen in Zeiten von Corona. Tja, und dann fliegen die Mädels doch aus und bedauern es sogleich: »Ich weiß, das war bescheuert.«

So menschlich sie auch sind, tauschen möchte man nicht mit Joann Sfars Vampiren. Denn wie sagt Marc-Alain Ouaknin, der andere Rabbi, den Sfar gern zu zitieren pflegt? Ein Schriftsteller hat die gleichen bizarren Fantasien wie ein Serienmörder oder das Orakel von Delphi. Also, Licht aus und Sarg zu!

Jom Haschoa

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