Schweden

Nordische Intoleranz

Annika Hernroth-Rothsteins Telefon klingelt pausenlos. Medien aus aller Welt wollen wissen: Wieso Asyl im eigenen Land? Klar ist, mit ihrem Asylantrag hat die junge schwedische Jüdin einen PR-Coup gelandet. Als Grund für ihren drastischen Schritt nennt die 31-jährige Politikberaterin wachsenden Antisemitismus in Schweden. In ihrem Asylantrag klingt Émile Zolas »J’accuse« an; zugleich spiegelt er Rothsteins Verzweiflung wider. Denn die Mutter zweier Kinder fühlt sich als Jüdin in ihrer Heimat nicht mehr sicher.

»Ich habe eine Stimme. Erhebe ich sie nicht, wird es niemand für mich tun. Es geht nicht nur um mich, sondern um Freiheit und Menschenwürde, (...) um meine Kinder, denen ich eine starke, positive jüdische Identität vermitteln will.« Schwierig in einem Land, in dem sich laut schwedischem Nationalrat für Verbrechensbekämpfung die Zahl antisemitischer Straftaten seit 2010 verdreifacht hat. Daher ist auch die Resonanz auf den ungewöhnlichen Asylantrag groß. Rundfunk und Tageszeitungen haben das Thema zügig aufgegriffen. Damit hat Rothstein zumindest schon mal ein Ziel erreicht: Aufmerksamkeit.

Populismus Seit den wiederkehrenden gewalttätigen Übergriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen, vor allem im südschwedischen Malmö, ist Antisemitismus keine Randerscheinung mehr in Schweden. Mangelndes Geschichtsbewusstsein, verbunden mit linkem Populismus, latenten Ressentiments und der Ignoranz von Behörden und Politikern gegenüber Extremisten haben sich in den vergangenen Jahren zu einem gefährlichen Cocktail zusammengebraut.

Der Tropfen, der für Rothstein das Fass zum Überlaufen brachte, war der Antisemitismusbericht, den die EU-Grundrechteagentur zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht vorstellte. Laut der Studie ist die Angst, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, in Schweden besonders ausgeprägt. Zudem sehen 80 Prozent der Befragten während der vergangenen fünf Jahre eine deutliche Zunahme des Antisemitismus. Erschreckende Zahlen für ein Land, das sich gern seiner liberalen Werte rühmt.

Politik »Die Zukunft sieht düster aus«, so Rothsteins Fazit. Deshalb wollte sie das Thema dort platzieren, wo es hingehört: in der Mitte der Gesellschaft. »Antisemitismus ist ein politisches Problem«, sagt sie entschieden, »also sollen sich unsere Politiker endlich damit auseinandersetzen.«

Die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Schweden nimmt Rothsteins Schritt allerdings gelassen. »Sie handelt auf eigene Verantwortung«, wiegelt Lena Posner-Körösi ab. »Frau Rothstein repräsentiert niemanden. Sie weckt damit Aufmerksamkeit – mehr aber auch nicht.« Die Situation sei »gar nicht so schlecht« wie Rothstein sie beschreibe: »Schwedens Regierung ist sehr deutlich und positiv in unseren Angelegenheiten«, so Posner-Körösi. »Wir schächten seit 80 Jahren nicht, das ist nichts Neues. Wir importieren.«

Menschenrechte Doch das könnte sich bald ändern. Denn die Diskussion um ein Importverbot von koscherem Fleisch kommt in Schweden gerade in Fahrt. »Die Äußerungen der Zentralratsvorsitzenden spornen mich nur noch mehr an«, sagt Rothstein. »Mein Schritt war richtig. Ich werde weitermachen.« Dass die Menschenrechte schwedischer Juden allmählich ausgehöhlt werden, liege auch am Beschönigen ihrer tatsächlichen Lage, so Rothstein.

»Unsere Lage sei ›nicht so schlecht‹ heißt für mich nichts anderes als: Sie ist nicht gut!«, entrüstet sich die 31-Jährige. »Es reicht mir nicht, dass es ›ganz okay‹ ist. Hier stehen Freiheit und existenzielle Menschenrechte auf dem Spiel.«

Rothstein nimmt kein Blatt vor den Mund: »Jemand aus der Gemeinde sagte nach der EU-Studie zu mir: ›So schlimm wird es schon nicht werden. Sie werden uns nicht in einen Zug setzen.‹ Ich antwortete daraufhin: ›Wir steigen freiwillig in den Zug.‹«

Spanien

Mallorca als Vorbild

Das Stadtparlament von Palma hat eine Antisemitismus-Resolution verabschiedet – anders als der Rest des Landes

von Sabina Wolf  26.07.2024

Sport

Der Überflieger

Artem Dolgopyat ist in Israel ein Star. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gewann der Turner Gold, 2023 wurde er Weltmeister. Nun tritt er in Paris an

von Martin Krauß  26.07.2024

Europäisches Parlament

»Zittert. Das hier ist nur der Anfang«

Die frisch gebackene französische Abgeordnete Rima Hassan hetzt gegen Israel

von Michael Thaidigsmann  25.07.2024

Ausstellung

Olympioniken im KZ Buchenwald

Auf dem Ettersberg bei Weimar treffen unterschiedlichste Biografien aufeinander

von Matthias Thüsing  25.07.2024

Frankreich

»Man ist schließlich französisch«

Ganz Paris feiert die Olympischen Spiele. Ganz Paris? Nicht alle Juden fühlen sich vom erwünschten »Wir-Effekt« angesprochen. Denn das Land bleibt zerrissen

von Sophie Albers Ben Chamo  25.07.2024

USA

Die zweite Wahl?

Mit dem Rückzug von Joe Biden und der Kandidatur von Kamala Harris könnte das Rennen um die Präsidentschaft noch einmal richtig spannend werden

von Michael Thaidigsmann  24.07.2024

Jüdische Emigration

Die Niederlande - Ein Ort der Zuflucht für Juden?

Die Historikerin Christine Kausch nimmt das Leben jüdischer Flüchtlinge in den Blick

von Christiane Laudage  24.07.2024

Vor 80 Jahren

Von Rhodos nach Auschwitz

1944 wurden 2000 Jüdinnen und Juden von Rhodos nach Auschwitz deportiert. Nur wenige überlebten

von Irene Dänzer-Vanotti  23.07.2024

Jerusalem

Nach Gaza entführter Holocaust-Experte für tot erklärt 

Der Historiker Alex Dancyg ist in der Geiselhaft umgekommen

 22.07.2024