Frankreich

Nichts wie weg!

Wenn die Kippa zum Sicherheitsrisiko wird: Manch einer zieht lieber eine Mütze darüber, um nicht als Jude erkannt zu werden. Foto: dpa

Der Toulouser Anwalt Erick Lebahr sitzt in einem Café auf dem Hauptplatz der Stadt und wischt nervös über sein Smartphone. Er liest von der Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt und ruft sofort seine Schwester in Paris an: »Feiert Schabbat heute bitte zu Hause. Geht nicht in die Synagoge!«, ruft er ins Telefon. Wenig später soll bekannt werden, dass der islamistische Terrorist Amedy Coulibaly vier jüdische Männer ermordet hat.

Auf der anderen Seite des Platzes ist die Fassade des Rathauses zu einem Ort der Trauer und des Gedenkens geworden. »Ich bin Charlie« steht auf Transparenten, Passanten zünden Kerzen an oder legen Stifte als Symbol der Meinungsfreiheit nieder.

Terror Nach den Anschlägen, die Journalisten und die jüdische Gemeinde trafen, sind Frankreichs Juden verängstigt. Jetzt denken noch viele mehr darüber nach, der Grande Nation den Rücken zu kehren und Alija zu machen. Schon vor den Anschlägen wanderten immer mehr französische Juden nach Israel aus. 7000 waren es nach Angaben der Jewish Agency im Jahr 2014 – so viele wie niemals zuvor.

Daniel Benhaim, Direktor der Jewish Agency in Frankreich, sagt: »Man darf sich nicht täuschen. Nach den Mega-Attentaten der vergangenen Woche glaubt niemand, dass nun eine Zeit der Ruhe beginnt. Das ist nicht der Fall. Die Angst der Gemeinde ist spürbar.«

Auch Erick Lebahr, der drei Kinder hat, erhielt schon Morddrohungen: »Es ist nicht so, dass ich keine Angst hätte, aber ich möchte Frankreich nicht verlassen.« Die französische Presse spricht von einem Trauma in der jüdischen Gemeinde. Die Webseite slate.fr schreibt: »Gibt es in Frankreich noch eine Zukunft für Juden? Erschien diese Frage vor einigen Jahren absurd, ist sie heute, da man Juden angreift und ermordet, legitim.«

Alija Viele Juden werden das Angebot der Jewish Agency, die unter anderem in Paris, Marseille und Lyon Auswanderungsmessen organisiert, gerne annehmen. Hintergrund für die seit Wochen geplanten Messen ist ein neues Programm der israelischen Regierung mit dem Namen »Frankreich zuerst«.

Nach den Anschlägen verstehe die Mehrheitsgesellschaft endlich, warum immer mehr Juden an Alija dächten, sagt Richard Wertenschlag, der Oberrabbiner von Lyon. In der Tat fühlen sich viele Gemeindemitglieder im Alltag eingeschränkt, da die Gefahr überall zu lauern scheint. Normales Jüdischsein sei an manchen Orten im Land kaum mehr möglich, unterstrich das Ehepaar Zeitoun bei einer Demonstration in Paris: »Ist es normal, dass man einen Code eingibt, um in die Synagoge zu kommen? Ist es normal, dass man die Kippa unter einer Mütze verstecken und seine Kinder am Schultor abholen muss?« Jüdisches Leben ist zum Sicherheitsrisiko geworden, auch wenn das so drastisch niemand sagen will.

Die französische Regierung scheint den Ernst der Lage erkannt zu haben: Innenminister Bernard Cazeneuve kündigte massive Sicherheitsvorkehrungen an. Seit Montag werden die 717 jüdischen Schulen und Gemeindezentren im ganzen Land von 4700 Polizisten und Soldaten bewacht.

In Montrouge, wo der Geiselnehmer von Paris, Amedy Coulibaly, vergangenen Donnerstag eine Polizistin erschoss, glauben viele Juden, dass er es eigentlich auf die Schule und die Synagoge »Yaguel Yaacov« abgesehen hatte. »Jeder, der in die Synagoge geht, hat Angst davor, das etwas passieren könnte. Wo ist man noch sicher? Zu Hause, bei geschlossenen Fensterläden«, beschreibt der Rabbiner von Montrouge, Jacob Mergui, die Stimmung in seiner Gemeinde.

Verständlich, dass viele auf ein besseres Leben in Israel hoffen, wo sie ihr Judentum offen leben können. Erick Lebahr erzählt, dass auch seine 17-jährige Tochter Alija machen möchte, und das bereits seit 2012. Damals war sie mit ihrem Vater kurz nach den Merah-Morden am Tatort, ihrer Schule in Toulouse. »Sie wollte darüber nicht sprechen, und wir haben auch nie wieder darüber gesprochen«, sagt ihr Vater.

Angst Offiziell raten die Vertreter der jüdischen Gemeinde ihren Mitgliedern nicht, das Land zu verlassen. Joël Mergui, der Präsident des Zentralkonsistoriums, meint, man sollte sich mit dem Herzen für Israel entscheiden und nicht aus Angst dorthin gehen: »Ich möchte nicht mehr hören, dass die Juden Angst haben«, sagt er.

Auch Oberrabbiner Haïm Korsia will den Gemeindemitgliedern Mut machen. Nach den Demonstrationen gegen Terror und für Toleranz vom Sonntag, an denen im ganzen Land fast vier Millionen Menschen teilnahmen, lobte er »das aufrechte Frankreich, das die Juden nicht im Stich lässt«.

Hochrangige Politiker befürchten dennoch eine Auswanderungswelle. Bei einem Auftritt in der Nähe des koscheren Supermarkts meinte Premierminister Manuel Valls, ohne Juden sei Frankreich nicht mehr Frankreich. Der Bürgermeister von Bordeaux und mögliche konservative Kandidat bei der Präsidentschaftswahl 2017, Alain Juppé, sagte, er könne sich die Rotweinstadt nicht ohne jüdische Gemeinde vorstellen: »Es bricht mir das Herz, wenn ich höre, dass unsere Mitbürger darüber nachdenken, nach Israel auszuwandern.«

Auch Erick Lebahr versucht, seine Tochter von ihrem Vorhaben abzubringen. Vorsichtshalber hat er aber eine Wohnung in Tel Aviv gekauft.

Russland

Der Vater der israelischen Rüstungsindustrie

Emanuel Goldberg war ein genialer Erfinder in der Weimarer Republik. Die Nazis sorgten dafür, dass er in Europa vergessen wurde. Doch bis heute macht der Mann aus Moskau Israel sicherer

von Leif Allendorf  20.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  19.11.2025

New York

Rekordpreis für »Bildnis Elisabeth Lederer« bei Auktion

Bei den New Yorker Herbstauktion ist wieder ein Rekord gepurzelt: Ein Klimt-Gemälde wird zum zweitteuersten je versteigerten Kunstwerk – und auch ein goldenes Klo wird für einen hohen Preis verkauft

von Christina Horsten  19.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  18.11.2025

Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren ihr Lebensthema. Sie sah ihre Aufgabe als politische Denkerin darin, die Welt und die Menschen zu verstehen. Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

von Jürgen Prause  18.11.2025

Mexiko

Antisemitisches Graffiti gegen Claudia Sheinbaum sorgt für Empörung

Die Worte »puta judía« wurden auf Gebäude des Obersten Gerichtshofs geschmiert. Die jüdische Gemeinschaft des lateinamerikanischen Landes verurteilt den sich immer wieder äußernden Judenhass

 17.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

"Stiller & Meara"

Abschied von den Eltern

Leinwandstar Ben Stiller hat eine erstaunlich persönliche Doku über seine berühmte Familie gedreht

von Patrick Heidmann  16.11.2025

Jerusalem

Nach Streit: Zionistischer Weltkongress einigt sich

Zwei Wochen lang zogen sich die Verhandlungen in dem globalen jüdischen Gremium hin. Nun gibt es ein Abkommen, das der Mitte-links-Block als Sieg für sich wertet

von Joshua Schultheis  16.11.2025