Europa

Neues Zuhause

Tania Teslyeva (M.) bei einer jüdischen Pflegefamilie in der Grafschaft Kerry Foto: Tom McEnaney for HIAS

Sich in der Ferne willkommen fühlen und von den neuen Nachbarn nicht ausgegrenzt, sondern unterstützt zu werden – das hat sich die internationale HIAS-Initiative »Welcome Circles« auf die Fahnen geschrieben. Mit nachbarschaftlichen Patenschaften hilft sie Geflüchteten vor Ort, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden.

Die Hebrew Immigrant Aid Society, HIAS, eines der weltweit ältesten Hilfswerke für Flüchtlinge und Migranten wurde 1881 gegründet. Die meisten Juden, die im 20. Jahrhundert über Ellis Island in die Vereinigten Staaten gelangten, sind damals in irgendeiner Form mit HIAS in Kontakt gekommen – viele allerdings, ohne es zu ahnen. Denn HIAS – heute als humanitäres Hilfsprogramm in rund 17 Ländern aktiv – agierte damals meist im Verborgenen.

PATENSCHAFT Vor rund 20 Jahren wurden die sogenannten Welcome Circles in den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen. Seither wurde das Konzept weltweit zu einem Erfolg. Im Zentrum der »Welcome Circles« steht die gemeinschaftliche und lokale Patenschaft, die sich an den Bedürfnissen der Geflüchteten orientiert.

Oft sind Einheimische dabei so etwas wie der Schlüssel zu einem neuen Zuhause für sie. Dies wirkt der Einsamkeit und Isolation entgegen. Jeder »Welcome Circle« folgt dabei einem etwas anderen Muster. Doch viele Gemeinden sind inzwischen untereinander vernetzt und tauschen ihre Erfahrungen aus.

In jeder der Initiativen stehen den Neuankömmlingen über einen Zeitraum von rund sechs Monaten fünf bis acht Freiwillige mit Hilfsangeboten zur Seite. Weltweit werden auf diese Weise derzeit mehr als 249 Ukrainer von »Welcome Circles« betreut. Und täglich werden es mehr.

LÄNDER Bislang sind die Hilfsinitiativen überwiegend in neun Ländern aktiv. Neben den USA – wo zurzeit vor allem afghanische Familien betreut werden – gibt es Willkommenskreise in Irland, Ungarn, Polen, Belgien, Portugal und Moldawien, außerdem in Italien, Griechenland und in Tschechien. Weitere Initiativen sind in Dänemark und England geplant. »Vielleicht erhalten wir bald auch Unterstützung aus Deutschland«, sagt HIAS-Referentin Katharine Woolrych.

In Moldawien, Rumänien, Polen und in der Ukraine würden die Aktivitäten derzeit ausgeweitet, um den steigenden Bedarf der Geflüchteten und der vor Ort Betroffenen im Winter zu decken.

Die freiwilligen Helfer aus den jüdischen Gemeinden unterstützen die Neuankömmlinge zunächst in sämtlichen Belangen ihrer Eingliederung. Viele kommen aus der Ukraine und haben sich auf den Weg nach Westeuropa gemacht, andere bleiben lieber in Ländern, die an ihr Heimatland angrenzen, in der Hoffnung, bald zurückzukehren.

abläufe »Wir befinden uns im neunten Monat des Ukraine-Kriegs, und ein Ende ist nicht abzusehen«, sagt Woolrych. »Die Strukturen innerhalb der Gemeinden sind durch unsere Initiative inzwischen weniger chaotisch als zu Beginn des Kriegs, als jeder nur irgendwie helfen wollte.« Viele Abläufe hätten sich professionalisiert.

Etliche der Geflüchteten aus der Ukraine haben einen jüdischen Hintergrund, doch dies sei keine Voraussetzung, um Hilfe zu erhalten, betont Woolrych. »Wir sind zwar eine jüdische Organisation, doch wir unterstützen jeden, der Hilfe braucht.« Es entspräche den jüdischen Werten, für Fremde in der Not da zu sein. »Auf diesem Gebiet haben wir eine große Expertise.«

Die »Welcome Circles« unterscheiden sich von anderen Hilfsinitiativen dadurch, dass die Helfer immer direkt aus der jeweiligen jüdischen Gemeinde vor Ort kommen und nicht von außerhalb. »Deshalb haben sie auch genau das Experten-Wissen, was für die Flüchtlinge so wertvoll ist«, sagt die studierte Juristin Woolrych.

Bei den »Welcome Circles« kommen die Helfer immer aus der jeweiligen Gemeinde.

Sie können zum Beispiel pensionierte Anwälte sein, die den Flüchtlingen in Rechtsfragen beiseite stehen. Manch ehemaliger Lehrer hilft Flüchtlingskindern bei den Hausaufgaben, andere unterstützen bei der Job- oder Wohnungssuche. Freiwillige aller Altersklassen legen ein großes Engagement an den Tag.

Dieser praktisch orientierte und unbürokratische Ansatz macht weltweit Schule. Er funktioniert in jeder Gesellschaft, unabhängig von Religion oder Kultur. In der Regel gibt es pro Willkommenskreis ein bis zwei Koordinatoren. Das vereinfacht die Abläufe.

Rund ein halbes Jahr lang kümmern sich die Ehrenamtlichen der »Welcome Circles« in der Regel um die Bedürftigen. »Die Idee dahinter ist, dass wir erst einmal so etwas wie eine Struktur für die Menschen schaffen«, sagt Woolrych. Wo der nächste Supermarkt sei, Hilfe bei der Arztsuche oder dem passenden Sprachkurs. Im Zentrum stehe der Ansatz, den Flüchtlingen möglichst schnell zur Selbstständigkeit zu verhelfen und sie nicht in Abhängigkeit zu halten wie zum Beispiel durch die Unterbringung in Gastfamilien.

EMPATHIE Viele Ehrenamtliche erleben die Zusammenarbeit mit den Neuankömmlingen als sehr erfüllend, auch, wenn ihnen die Arbeit mit oft schwer traumatisierten Menschen viel Geduld und Empathie abverlange.
Ist ein Ende der »Welcome Circles« in Sicht? Woolrych verneint. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine seien Millionen Menschen in die Europäische Union geflohen. Gleichzeitig benötigen immer noch Tausende von Familien aus Afghanistan Unterstützung, damit sie sich in ihrer jeweiligen neuen Umgebung zurechtfinden können. Viele von ihnen wurden seit August 2021 vertrieben.

Die Eingliederung von derart vielen Menschen innerhalb kürzester Zeit sei ein Novum in der jüngeren Geschichte der Menschheit. Besonders in den USA habe diese Situation anfangs zu Überlastungen geführt. Die Erfahrungen des Hilfswerks aus zwei Jahrzehnten Flüchtlingsarbeit sowie alt bewährte Strategien zur Aufklärung, Organisation und Mobilisierung der jüdischen Gemeinschaft haben die »Welcome Circles« überhaupt erst möglich gemacht. Seit dem Frühjahr wurde das Modell erfolgreich an Geflüchtete aus der Ukraine angepasst – und wer weiß, welche Konflikte in Zukunft auf die Flüchtlingsinitiative zukommen.

Kommentar

Der »Tages-Anzeiger« und das Geraune von der jüdischen Lobby

Die Zeitung unterstellt, erst eine Intervention des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes habe zur Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese durch die Uni Bern geführt. Dabei war die Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Argentinien

Raubkunst in der Immobilienanzeige

Die Tochter eines Naziverbrechers wollte ihre Villa verkaufen und führte Ermittler auf die Spur einer gestohlenen Kunstsammlung

von Andreas Knobloch  13.09.2025

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Italien

Jüdisches Touristen-Paar in Venedig attackiert

Die Täter schrien »Free Palestine«, bevor sie die Ehefrau mit einer Flasche attackierten und ihren Ehemann ohrfeigten

 11.09.2025

Georgien

Sicher und schön

Der Kaukasus-Staat pflegt Erbe und Zukunft der Juden. Und bietet atemberaubende Natur. Ein Besuch

von Michael Khachidze  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Imanuels Interpreten (13)

Herb Alpert: Der Universalkünstler

Vom Trompeter zum Philantropen: Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Kalifornien erreichte in den 90 Jahren seines bisherigen Lebens viel

von Imanuel Marcus  10.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  10.09.2025 Aktualisiert

Südafrika

Unvergessliche Stimme

Die Schoa-Überlebende Ruth Weiss hat sich als Journalistin, Schriftstellerin und Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. Sie wurde 101 Jahre alt. Ein Nachruf

von Katrin Richter  10.09.2025