Wolodymyr Selenskyj

Neue Helden braucht das Land

Scheint anders über die Vergangenheit zu denken als seine Vorgänger: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Foto: imago images/ZUMA Press

Seit der Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj ukrainischer Präsident ist, hat sich Kiews Geschichtspolitik liberalisiert. Das ist für die Juden des Landes eine gute Nachricht. Denn die ukrainische Geschichtspolitik der vergangenen Jahre ließ umstrittene Fragen offen.

Nationalisten Einerseits wurde 2016 unter dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko der 75. Jahrestag des Massakers von Babi Jar – bei dem Massenmord 1941 hatten der deutschen Wehrmacht auch ukrainische Nationalisten geholfen – eine große Staatsangelegenheit. Andererseits setzte sich die Verehrung umstrittener Helden fort. Zu ihnen gehört Stepan Bandera, der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die im Zweiten Weltkrieg zeitweilig mit der Wehrmacht kollaborierte.

Die Entwicklung, Bandera zu verehren, war unter anderem dem Historiker Wolodymyr Wjatrowytsch zuzuschreiben, der von vielen in der Ukraine »Geschichtsminister« genannt wurde. Er war unter Poroschenko Chef des Instituts für Nationale Erinnerung und betrachtet in seinen Aufsätzen und Werken die OUN durchaus mit Sympathie.

Der alte Direktor des Instituts für Nationale Erinnerung wurde abgesetzt.

Wjatrowytsch gilt außerdem als Vater der Entkommunisierungspolitik der ukrainischen Regierung, mit der man gegen sowjetische Ortsnamen und Denkmäler vorging. So wurde zum Beispiel in der Hauptstadt Kiew aus dem Moskauer Prospekt der Stepan-Bandera-Prospekt – eine von vielen Umbenennungen, die das Land gespaltet haben.

differenzen Es ist nicht so, dass sich die Geschichtspolitik der Ukraine seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Mai 2019 völlig verändert hätte. Denn obwohl Selenskyj, selbst jüdischer Herkunft, im Gegensatz zum national­liberalen Wahlslogan seines Vorgängers Poroschenko »Armee! Sprache! Glauben!« deutlich auf Einigkeit statt auf Differenzen setzt, kommt auch sein neuer Kulturminister Wolodymyr Borodjanskyj aus einer ähnlichen ideologischen Ecke wie Wjatrowytsch.

Doch eine Wende gibt es. So wurde Wolodymr Wjatrowytsch als Direktor des wichtigen Instituts für Nationale Erinnerung durch Anton Drobowytsch ersetzt – einen Mann, den der Vorgänger nun äußerst hart kritisiert.

»Dies ist eine weitere Fehlentscheidung der Regierung in der humanitären Politik«, meint der einstige »Geschichtsminister« Wjatrowytsch dazu. »Das ist kein Fehler mehr, sondern eine Wende in die andere Richtung. Womöglich gibt es im nationalen Gedächtnis keinen Platz mehr für die Ukrainer.«

Der Kulturwissenschaftler Drobowytsch ist Leiter des Bildungsprogramms des Gedenkzentrums von Babi Jar. Mit dem Holocaust beschäftigt er sich seit Langem. Sein Ziel ist es, die ukrainische Geschichtspolitik »ausgewogener und liberaler« zu machen.

Propaganda »Das Institut für Nationale Erinnerung soll nicht als Agitationsflaggschiff wahrgenommen werden, auch nicht als Teil des ideologischen Kampfes oder der Propaganda«, sagt Drobowytsch. »Vor allem sollten wir den Bürgerdialog stärken.« Die Ukraine sei eine diverse politische, aber keine ethnische Nation.

Mit dieser These kann der frühere »Geschichtsminister« Wjatrowytsch wenig anfangen. Denn die bisherige Arbeit des Instituts basierte zum großen Teil darauf, die Erzählung von den Ukrainern als monolithischer Nation zu prägen.

»Selbstverständlich befinden wir uns weiter auf der Suche nach Nationalhelden«, kündigte Anton Drobowytsch kürzlich vor dem verantwortlichen humanitären Ausschuss des ukrainischen Parlaments an. »Aber wir werden eben Akzente auf die Persönlichkeiten setzen, die das Volk einen können.« Als Beispiele wurden der Maler Kasimir Malewitsch oder der Fußballtrainer Walerij Lobanowskyj genannt.

Das wäre in der Tat ein krasser Gegensatz zur Politik der vergangenen Jahre, als neben Bandera auch Persönlichkeiten wie Roman Schuchewytsch propagiert wurden, der im Zweiten Weltkrieg als Hauptmann beim Bataillon »Nachtigall« diente.

Ähnlich wie im Falle von Bandera wurde in Kiew auch nach Schuchewytsch eine große Straße umbenannt. Sie trug früher den Namen des sowjetischen Armeegenerals Nikolaj Watutin.

Vergangenes Jahr erklärte das Kiewer Bezirksgericht die Umbenennungen der beiden Straßen für rechtswidrig. Allerdings reichte der frühere »Geschichtsminister« eine Gegenklage ein und hatte vor einem Berufungsgericht damit Erfolg. Dies bedeutet, dass die beiden Prospekte in Kiew nach Bandera und Schuchewytsch benannt bleiben.

sowjetunion »Bei Personen wie Bandera und Schuchewytsch wird es für uns sehr wichtig sein, der Gesellschaft zu erklären, warum sie für einen Teil der Bevölkerung Helden und für den anderen Teil geradezu toxisch sind«, sagt Anton Drobowytsch.

»Wir müssten natürlich den Menschen auch erklären, wie die Propaganda in der Sowjetunion funktionierte und warum sie bestimmte Ukrainer gezielt schwarzma­l­te. Niemand sollte blind die sowjetischen Propagandamythen wiederholen.«

In Zukunft sollen Persönlichkeiten hervorgehoben werden, die das Volk einen.

Eine wichtige Aufgabe der neuen Geschichtspolitik des Landes wird auch die Verbesserung der ukrainisch-polnischen Beziehungen sein. Polen reagierte auf die zunehmende Verehrung der OUN in den vergangenen Jahren mit wenig Begeisterung. In Warschau weiß man nur allzu gut, dass an dem Massaker von Wol­hynien 1943/44 die OUN und ihr militärischer Flügel, die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), beteiligt waren. Warschau bewertet das Massaker als »ethnische Säuberung« mit Genozidelementen.

2017 verweigerte die Ukraine Polen die Suche nach Kriegsopfern auf ihrem Gebiet, weil in einem polnischen Ort ein Denkmal für die UPA-Kämpfer zerstört wurde. Vergangenes Jahr hat Kiew Warschau die Zulassung wieder erteilt. »Wir sind der Meinung, die Gräber der Ukrainer in Polen und die Gräber der Polen in der Ukraine sollten gemeinsam bewacht werden«, kommentiert Drobowytsch das gegenüber Radio Swoboda. Auch hofft der neue Direktor des Instituts für Natio­nale Erinnerung auf ein gemeinsames Geschichtslehrbuch, das von Kiew und Warschau erarbeitet wird. Es gibt also doch eindeutige Zeichen, die eine liberale Geschichtswende in der Ukraine erkennen lassen.

München/Gent

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