Kasachstan

Nach den Unruhen

Bewaffnete Soldaten: Straßenszene am Dienstag in Almaty Foto: imago images/ITAR-TASS

»Das Leben kehrt zurück. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass wieder Autos fahren«, sagt Yeshaya Cohen, der Oberrabbiner von Kasachstan, am Dienstag in einem Telefongespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Wir hoffen, dass sich die Situation nun allmählich wieder normalisiert.« Cohen wurde in Jerusalem geboren. Er gehört der chassidischen Chabad-Bewegung an und lebt seit 1994 in Kasachstan.

In der vergangenen Woche und am Wochenende war seine Gemeinde sehr beunruhigt. Vor allem in Almaty, der größten Stadt des Landes, gab es gewaltsame Ausschreitungen gegen die Staatsmacht. Mehr als 160 Menschen wurden getötet, Tausende Menschen seien festgenommen worden, erklärte das Innenministerium. Auslöser der Proteste waren stark gestiegene Gas- und Kraftstoffpreise, die sich zunehmend gegen die autokratische Herrschaft von Präsident Kassym-Schomart Tokajew richteten.

almaty »Unsere Gemeindemitglieder waren sehr verunsichert«, sagt Cohen, »sie wussten nicht, was los ist.« Angesichts der gefährlichen Lage stellte die Gemeinde in Almaty, wo die meisten Juden des Landes leben, ihren Betrieb ein. Aus Sorge verließen die meisten Gemeindemitglieder ihre Wohnun­gen nicht.

Die neun Synagogen im Land blieben geschlossen. Sie hätten »ihre Aktivitäten eingestellt, um die Gemeindemitglieder nicht zu gefährden«, sagte Co­hen. Das Gemeindeleben war komplett heruntergefahren – bis auf ganz Dringendes wie eine Beerdigung am Freitag und eine am Sonntag.

»Die konnten wir ja nicht aufschieben«, sagt Cohen, »deshalb ging unsere Chewra Kadischa auch während der Unruhen hinaus zu den Wohnungen der Verstorbenen und holte die Leichname ab«. Zu den Beerdigungen habe man dann auch gerade so einen Minjan zusammenbekommen.

Antisemitismus Juden und ihr Eigentum seien bei den Unruhen nicht zu Schaden gekommen, sagt Cohen. Eigentlich wundere ihn dies auch nicht. Denn Kasachstan sei »ein Modell von Frieden und Toleranz«. In den mehr als 25 Jahren, die er inzwischen in dem zentralasiatischen Land lebt, habe er nicht ein Mal Antisemitismus erlebt, sagt er, »und ich bin wirklich viel unterwegs«.

Während westliche Medien berichten, Tokajew habe den Volksaufstand in seinem Land »mit sowjetischer Brutalität« niedergeschlagen, spricht der Präsident selbst vom Sieg über einen »Putschversuch«.

Zeev Levin vom Jerusalemer Ben-Zvi-Institut, ein Experte für Zentralasien, bestätigt diese Ansicht. Er sagte der Jewish Telegraphic Agency (JTA) in den Tagen der gewaltsamen Ausschreitungen, dass das Risiko von Angriffen auf Juden oder jüdische Einrichtungen in Almaty sehr gering sei, denn es gebe auch in friedlichen Zeiten kaum Antisemitismus in Kasachstan.

lebensunterhalt Schätzungen zufolge leben mehrere Tausend Juden im Land. Viele jüdische Familien verdienten ihren Lebensunterhalt mit Geschäften und »halten sich von der Politik fern«, sagte Levin der JTA. »Würden sie jedoch dazu gezwungen, kann man erwarten, dass sie die Regierung unterstützen.« Im Telefongespräch mit der Jüdischen Allgemeinen lobt auch Oberrabbiner Ye­shaya Cohen die kasachische Staatsmacht und nennt Präsident Tokajew »einen Mann des Friedens und des Fortschritts«.

Während westliche Medien berichten, Tokajew habe den Volksaufstand in seinem Land »mit sowjetischer Brutalität« niedergeschlagen, spricht der Präsident selbst vom Sieg über einen »Putschversuch«.

Am Dienstag ist das offizielle jüdische Leben in Almaty wiederaufgenommen worden. Im Gemeindezentrum herrsche, abgesehen von den Corona-Maßnahmen, allmählich wieder ein Betrieb wie zuvor, sagt Oberrabbiner Cohen. »Wir hoffen, dass sich die Lage bald normalisiert. Wir beten dafür.«

Großbritannien

Frauen haben Besseres verdient

Die Journalistin Marina Gerner beklagt in ihrem Buch fehlende Innovationen im Bereich Frauengesundheit – und eckt nicht nur mit dem Titel an

von Amie Liebowitz  28.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  28.11.2025

Niederlande

Demonstranten stören Vorlesung in Gedenken an Nazi-Gegner

An der Universität Leiden erzwangen antiisraelische Studenten die Verlegung einer Gedächtnisvorlesung zum Andenken an einen Professor, der während der Nazi-Zeit gegen die Judenverfolgung protestiert hatte

von Michael Thaidigsmann  28.11.2025

Großbritannien

Verdächtiger nach Anschlag auf Synagoge in Manchester festgenommen

Der Angriff auf die Synagoge am Vorabend des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur sorgte international für Bestürzung. Jetzt wurde ein weiterer Tatverdächtiger festgenommen

von Burkhard Jürgens  27.11.2025

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

Interview

»Meinungsvielfalt gilt es auszuhalten« 

Am 8. Dezember wählt die Gemeindeversammlung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ein neues Präsidium. Ein Gespräch mit den Kandidaten über Herausforderungen an die Gemeinde, Grabenkämpfe und Visionen

von Nicole Dreyfus  27.11.2025

Schweiz

Antisemitismus auch in der queeren Szene benennen

Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich teils unsicher, wenn in der queeren Szene über Israel gesprochen wird. Der Verein Keschet will das ändern

von Nicole Dreyfus  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Mit Kufiya und Waffen

Ein Kinderbuch mit Folgen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

USA

Personifizierter Hass

Menschen wie Nick Fuentes waren lange ein Nischenphänomen. Nun drängen sie in den Mainstream - und sind gefährlicher denn je

von Sophie Albers Ben Chamo  26.11.2025

Meinung

Die polnische Krankheit

Der Streit um einen Tweet der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem zeigt, dass Polen noch immer unfähig ist, sich ehrlich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen

von Jan Grabowski  26.11.2025