Wien

Mit Courage gegen »Kellernazis«

Eine belebte Straße im Alsergrund, dem 9. Wiener Bezirk. Autos brausen an Miets- und Geschäftshäusern vorbei, auf dem Gehsteig bummeln Studierende, andere beeilen sich, sie scheinen spät dran zu sein – die Uni liegt nur einen Steinwurf entfernt. Im Erdgeschoss eines der Häuser aus der k. u. k. Monarchie haben die Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JöH) ihren Sitz. Von außen weist nichts auf sie hin – kein Schild, keine Klingel, nur eine unscheinbare Tür. Wer sie öffnet, tritt in Räume mit hohen Decken und Parkett, schlicht möbliert mit Tischen und Stühlen, die als Arbeitsplätze dienen. An den Wänden lehnen abgewetzte Sofas zum Chillen, weiter hinten: eine kleine Küche.

Verfolgt man österreichische Medien, könnte man meinen, JöH sei eine große Bewegung, immer wieder fällt sie durch spektakuläre Aktionen auf. Doch der Eindruck täuscht. Die jüdische Studierendenvertretung des Landes hat zwar rund 1000 Mitglieder, doch die tatsächliche Arbeit stemmen ganz wenige. »Im Endeffekt sind wir nur acht, die alles machen«, sagt Alon Ishay, der Präsident der JöH. Er ist 23 und studiert Psychologie und Informatik.

An diesem Nachmittag ist er gerade von einem Gerichtstermin zurückgekehrt, hat in einem der Räume kurz mit zwei Vorstandskolleginnen gesprochen und sich in der Küche einen Kaffee aufgebrüht. Er zieht sich einen Stuhl heran, fährt sich durch die dunklen Locken und beginnt zu erzählen.

»Wenige Tage danach veränderte sich die jüdische Welt«

»Ich wurde am 2. Oktober 2023 zum Präsidenten gewählt. Wenige Tage danach veränderte sich die jüdische Welt.« Seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober und dem darauf folgenden Krieg in Gaza nimmt der Antisemitismus an Universitäten weltweit zu, auch in Österreich. So schrien Studierende bei einer Feier an der Wiener Central European University (CEU) »Zionists get out« und stellten einen jüdischen Studenten bloß. Die JöH intervenierte und suchte das Gespräch mit der Rektorin. Wenige Wochen später machte die JöH einen Vorfall bei einer Kundgebung an der Universität für Angewandte Kunst publik: Eine Rednerin hatte gefordert, das Massaker der Hamas nicht mehr zu erwähnen.

Ishay lehnt sich zurück: »Es ist uns trotz allem gelungen, an den Wiener Hochschulen eine Situation zu schaffen, die nicht so ist wie in Berlin.« Dort kam es zu Übergriffen, und viele jüdische Studierende fühlen sich nicht mehr sicher, nachdem »propalästinensische« Gruppen auf dem Campus antisemitische Parolen skandierten.

Verfolgt man die Medien, könnte man meinen, JöH sei eine große Bewegung.

Schwer zu schaffen macht Ishay, wenn auf Kundgebungen das Schoa-Gedenken instrumentalisiert wird. »Wenn das Leid, das meinem Volk angetan wurde, relativiert wird, das trifft mich.« Juden spielten keine Rolle mehr, es gehe nur noch um Gaza. Natürlich sei er bereit, über Gaza zu sprechen, sagt er und hebt die Hände zu einer ausladenden Geste, »aber die Ins­trumentalisierung des millionenfachen Mordes an Juden – das geht nicht«.

Alon Ishay kam vor fünf Jahren zum Studium nach Wien. Er wurde in Frankfurt geboren, hat osteuropäische und tunesische Wurzeln, seine Mutter stammt aus Israel. Es ist sein viertes Jahr im Vorstand der JöH und sein zweites als Präsident. Bei den Wahlen im Herbst wird er nicht noch einmal antreten. »Ich bin ausgelaugt«, sagt er und atmet laut aus. »Im letzten Jahr war meine Arbeit für die JöH Vollzeit, neben dem Studium; von morgens bis abends war ich eingebunden. Das drückt auf die Energiereserven.«

Doch es ist nicht nur der Antisemitismus von links, der Ishay und seinen Mitstreitern viel abverlangt, sondern auch der von rechts. Als vor den österreichischen Parlamentswahlen im vergangenen Herbst die Umfragewerte der rechtspopulistischen FPÖ und ihres Spitzenkandidaten Herbert Kickl erschreckend stiegen, riefen sich die acht Vorstandsmitglieder der JöH rasch zusammen. »Uns war klar, dass wir irgendetwas tun müssen – am besten im Stadtbild«, sagt Ishays Vorstandskollegin Milli Rabinovici (20), eine gebürtige Wienerin, die im vierten Semester Soziologie studiert.

Nach einer Woche kam die Idee, zwei Sätze ans Burgtor zu projizieren

Kurzfristig beschlossen sie, in der Woche vor der Wahl eine siebentägige »Mahnwache gegen Volkskanzler und Kellernazis« abzuhalten, so der Titel. Und das nicht irgendwo in der Stadt, sondern an einem der zentralsten Plätze: am Burgtor vor dem Heldenplatz. Sie meldeten eine Kundgebung an und dachten über ein großes Banner nach. Doch es erschien schwierig, es aufzuhängen. Nach einigen Tagen kam einer der Vorstandsmitglieder auf die Idee, man könne doch Worte oder einen Satz aufs Burgtor projizieren. Doch was genau?

»Das war der schwierigste Teil«, sagt Alon Ishay. »Wir alle sind Macher und Macherinnen, wir können schnell reagieren und reden nicht viel drum herum. Aber jetzt mussten wir innehalten und überlegen. Es sollte nichts Geschmackloses sein, aber dennoch auffallen.« Mehr als eine Woche zerbrachen sie sich die Köpfe. Und dann kam ihnen plötzlich die Idee – wie im Laufe der Geschichte schon oft in Wien: im Café. Die Idee wurde aufgegriffen, und so projizierten sie in der Woche vor der Wahl jeden Abend zwei Sätze ans Burgtor, die es in sich haben: »Hätte Herbert Kickl uns damals versteckt?« – »Herbert Kickl hätte uns deportiert.«

Die Studenten hatten ins Schwarze getroffen, das Medienecho war gewaltig, die FPÖ schäumte vor Wut. Jeden Abend kamen Hunderte, sahen die beiden Sätze auf dem Burgtor und hörten bekannte österreichische Autoren wie den Lyriker und Schoa-Überlebenden Robert Schindel oder die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek aus ihren Texten lesen.

»Im Endeffekt sind wir nur acht, die alles machen.«

JöH-Präsident Alon Ishay

Noch heute ist die JöH stolz auf ihre Aktion. »So etwas kann die Israelitische Kultusgemeinde natürlich nicht machen, aber wir«, sagt Ishay und unterstreicht das Gesagte mit den Händen. »Wir verstehen uns als Organisation, die die Aufgabe hat, so etwas zu äußern.«

Verhindern konnte die Aktion den Wahlsieg der Rechtspopulisten jedoch nicht. Mit 28,8 Prozent der Stimmen wurden sie erstmals stärkste Kraft im Nationalrat. Drei Wochen später, Ende Oktober 2024, wählten die Abgeordneten – der parlamentarischen Tradition zufolge, wonach die stärkste Fraktion im Nationalrat den Ersten Präsidenten stellt – einen FPÖ-Politiker an die Spitze des Hohen Hauses: Walter Rosenkranz, aktives Mitglied einer deutschnationalen, pflichtschlagenden Studentenverbindung und bekannt für frühere Aussagen, in denen viele eine Verharmlosung von NS-Verbrechen sehen.

Zwei Wochen im Amt, möchte Rosenkranz so wie seine Vorgänger am Jahrestag der Pogrome von 1938 an die Opfer erinnern. Weil ihn – anders als andere Vertreter von Regierung und Parlament – die Israelitische Kultusgemeinde zu deren Gedenkveranstaltung im November 2024 an der Schoa-Namensmauer explizit nicht einlädt, will er an einem anderen Ort einen Kranz niederlegen: am Holocaust-Mahnmal am Judenplatz.

Doch die JöH stellt sich ihm in den Weg: Eine Menschenkette jüdischer Studierender schützt das Denkmal und sagt dem Parlamentspräsidenten vor laufenden Kameras ins Gesicht: »Wir wollen nicht mit Ihnen gedenken, wir wollen nicht, dass Sie unseren Vorfahren ins Gesicht spucken.« Dass er zu diesem Datum an diesem Ort erscheine, sei ein Schlag ins Gesicht aller Überlebenden der Schoa. Man lasse sich nicht von ihm missbrauchen.

Der Parlamentspräsident soll gefragt haben, ob man die Protestierenden nicht »wegräumen« könne

Auf Filmaufnahmen ist zu sehen, wie Rosenkranz den Studierenden droht: »Sie wollen es drauf ankommen lassen?« Milli Rabinovici erinnert sich, dass er fragte, ob man die Protestierenden nicht »wegräumen« könne. »Die Einsatzleiterin der Polizei sagte ihm schließlich, dass er seinen Kranz an diesem Tag dort nicht niederlegen kann.« Stumm, die Hände auf dem Rücken, zieht er unverrichteter Dinge mit seinem Tross wieder ab.

Diese Aktion brachte der JöH viel Respekt ein, sowohl unter Wiens Juden als auch in der Mehrheitsgesellschaft im ganzen Land. Mutig zu sein, nicht einzuknicken und Widerstand zu leisten – vielen sind die jüdischen Studierenden in den vergangenen Monaten zum Vorbild geworden.

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Für ihren Einsatz gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus erhalten sie demnächst den Leon-Zelman-Preis 2025 der Stadt Wien. »Die JöH hat sich im vergangenen Jahr außerordentlich positioniert«, heißt es in der Begründung der Jury.

Trotz dieser Erfolge bleibt Alon Ishay bei seiner Entscheidung, im Herbst nicht erneut zu kandidieren. Aber er ist froh über jeden Tag, den er sich für die Studierendenvertretung engagiert. »Es war die beste Entscheidung meines Lebens«, sagt er. »Die Arbeit bei der JöH hat mir das Ohnmachtsgefühl genommen. Heute weiß ich: Wir können etwas bewegen.«

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