Tschechien

Lebenswerk in Buchstaben

Petr Brod hat eine gewaltige Bibliothek zum jüdischen Leben zusammengetragen. Ein Treffen

von Kilian Kirchgeßner  06.03.2024 11:57 Uhr

Seit 55 Jahren sammelt Petr Brod (72) Bücher über das Leben und die Geschichte der Juden in Mitteleuropa. Foto: Kilian Kirchgeßner

Petr Brod hat eine gewaltige Bibliothek zum jüdischen Leben zusammengetragen. Ein Treffen

von Kilian Kirchgeßner  06.03.2024 11:57 Uhr

Neulich war wieder der Spediteur da. Er kennt den Weg zu Petr Brods Prager Wohnung schon gut. Sein Auftrag: Eine ganze Bibliothek soll er verfrachten, viele Tonnen Bücher, die nach Brünn gebracht werden müssen, ans andere Ende Tschechiens. »Mir ist wichtig«, sagt Petr Brod, »dass die Sammlung nicht eines Tages auseinandergerissen wird, sondern zusammenbleibt.«

Ein Leben lang hat er die Bücher gesammelt, viele Titel mühevoll gejagt in Antiquariaten in ganz Europa, und heute, mit seinen 72 Jahren, will er die Bibliothek gut untergebracht wissen. Rund 6000 Bände umfasst die Sammlung, die sich mit dem jüdischen Leben in Mitteleuropa beschäftigt und die vermutlich größte Privatsammlung zu diesem Thema darstellt.

Seit vielen Generationen in Prag zu Hause

Petr Brod stammt aus einer jüdischen Familie, die seit vielen Generationen in Prag zu Hause ist, und mit seiner perfekten Zweisprachigkeit im Deutschen und Tschechischen setzt er eine Tradition fort, die in Böhmen fast ausgestorben ist.

1951 kam er zur Welt, und schon früh hat er sich für das religiöse, aber vor allem das kulturelle Erbe der jüdischen Gemeinden interessiert. »Die Nazis waren ja auch darauf erpicht, jüdische Bibliotheken und jüdische Manuskripte zu zerstören – und nicht nur die Menschen, die sie geschaffen haben«, sagt der Sammler: »Ich wollte meinen Beitrag dazu leisten, das Kulturgut zu erhalten.«

Er las und lernte, er tauchte immer tiefer ein in die historischen Zusammenhänge.

In seinem Sammlungseifer konzen­trierte er sich bewusst auf die Tschechoslowakei in ihren Grenzen vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie reichte damals noch in Gebiete hinein, die später zur Ukraine gehörten. Diesen Zuschnitt hat Brod bewusst gewählt: »Es ging mir darum, die miteinander eng verbundenen jüdischen Gemeinden Böhmens, Mährens, Österreichisch-Schlesiens, der Slowakei und der Karpaten-Ukraine zusammen zu sehen«, sagt er. »Denn zwischen ihnen gab es nicht nur nach 1918, sondern auch schon vorher enge Beziehungen. Aber die historischen Entwicklungsbedingungen waren anders, und einheitlich wurden sie nur durch die Schaffung der Tschechoslowakei 1918.«

Am Anfang war es vor allem intellektuelle Neugier, die Petr Brod antrieb. Leicht hatte er es nicht, an die Bücher zu kommen: Die erste Welle der wirklich alten, wertvollen Bände landete direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in den Antiquariaten – ganze Bibliotheken waren es, deren einstige Besitzer in den Konzentrationslagern ermordet worden waren und die nun von den neuen Bewohnern der Häuser auf den Markt gebracht wurden. Damals war Petr Brod noch nicht auf der Welt.

Nach Niederschlagung des Prager Frühlings verließ Brod das Land

In Prag verbrachte er ohnehin nur Kindheit und Jugend: Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 verließ er mit seinen Eltern das Land, er lebte im Exil in München, studierte in London und Harvard und blieb dann bis zur politischen Wende in München. »So mit 17 Jahren fing ich an, die Sammlung aufzubauen, da war ich schon im Ausland«, erzählt er. »Aber ab und zu fand sich auch da in den Antiquariaten etwas, das mir gefiel und thematisch passte.«

1989 kehrte Petr Brod nach Prag zurück. Die großen Wellen, in denen die Bibliotheken jüdischer Gelehrter in den Antiquariaten auftauchten, waren vorbei. Nur rund um das Jahr 1968 mit der Niederschlagung des Prager Frühlings, als so viele Familien ins Exil gegangen waren, hatte es nochmal eine solche Welle gegeben. Aber Petr Brod blieb hartnäckig: Er streifte regelmäßig durch die Antiquariate in Prag, und über die Jahre fand er immer wieder wahre Schätze. Seine Sammlung wuchs.

Vor allem aber saß Petr Brod in seiner eigenen Bibliothek und verband als begeisterter Privatgelehrter die vielen Fäden, die sich zwischen den Büchern zu spannen anfingen. Er las und lernte, er tauchte immer tiefer ein in die Zusammenhänge. Seine Bibliothek wurde zur Zeitmaschine. Weniger das Religiöse interessierte ihn als vielmehr die kulturhistorische Dimension – auch wenn sich beides gerade bei diesem Thema nicht trennen lässt.

Sammelbecken für Juden aus der weiteren Region

Im Mittelpunkt der meisten Entwicklungen steht Prag. Die Hauptstadt war schon immer ein Sammelbecken für Juden aus der weiteren Region, und sie alle brachten ihre eigenen Riten und Traditionen mit. Umgekehrt prägte Prag mit seinen großen Rabbinern die Gemeinden im ganzen Land – und das schon vor Jahrhunderten. Petr Brod rekonstruierte die Zusammenhänge aus der Literatur: »Prag war in der frühen Neuzeit eine sehr wichtige jüdische Gemeinde. Sie wurde ›Stadt und Mutter in Israel‹ genannt. Sie war eine ikonische Gemeinde der gesamten jüdischen Welt, vor allem der aschkenasischen – also nord- und westeuropäischen Juden«, erklärt er.

Ein Beispiel dafür war der legendäre Rabbi Löw, der am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts das Oberhaupt der Prager Gemeinschaft war. »Seine Weisheit strahlte weit über die Stadt hinaus aus. Es kamen viele Schüler aus verschiedenen Ländern zu ihm, aus Deutschland, Polen und anderen Teilen der Welt«, so Petr Brod. Ähnlich sei es später im 18. Jahrhundert, zum Beispiel unter dem Rabbiner David Oppenheimer, gewesen. »Prag hatte diese wichtige Rolle inne bis zum frühen 19. Jahrhundert.«

Die Politik gab in all diesen Jahrhunderten den Rahmen vor, in dem sich die Religion entwickeln konnte, aber vor allem auch das alltägliche Leben der Juden. Da waren zum Beispiel die sogenannten Familiantengesetze, als Tschechien und die Slowakei zur Habsburger Monarchie gehörten: Gemäß denen durften Juden nur unter besonderen Bedingungen heiraten, und das galt überhaupt nur für den jeweils erstgeborenen Sohn. So wollte man die Zahl der Juden begrenzen.

Geheime Eheschließungen – und eine hohe Abwanderung

Die Folge waren geheime Eheschließungen – und eine hohe Abwanderung. Das betraf auch Prominente, erzählt Brod und verweist auf den späteren Gründer der zionistischen Bewegung: »Theodor Herzl wurde in eine deutschsprachige jüdische Familie in Budapest geboren. Aber die Wurzeln dieser Familie liegen in Mähren. Und für diese Migrationsbewegungen kann man auch in Österreich Beispiele finden. Der Großteil der modernen Judenheit des heutigen Österreich kam vor allem aus den mährischen Gegenden oder aus Böhmen.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg drehten sich die Verhältnisse um. Da war es nicht mehr die Hauptstadt Prag, von der Impulse für das Judentum in Mitteleuropa ausgingen. Im Gegenteil: Ohne den Zuzug aus ländlichen Regionen wäre die jüdische Tradition in Prag womöglich vertrocknet. Orthodoxe aus der Karpato-Ukraine – die vor dem Weltkrieg zur Tschechoslowakei gehört hatte – strömten in den Westen.

Und das ist die Stelle, an der Brods Bibliothek auf die Gegenwart trifft, wenn viele der Fäden aus der Vergangenheit zusammenlaufen. Brod, der auch in der jüdischen Gemeinde engagiert ist, sieht die Auswirkungen im ganzen Land. »Die Überlebenden sind zum Teil nach Böhmen gezogen, zum Teil in die sudetendeutschen Randgebiete, wo sie den Grundstock für die Wiederbelebung der jüdischen Gemeinden bildeten«, sagt er. In Reichenberg (Liberec), aber auch Tetschen (Děčín) und Marienbad war das der Fall.

Religiöses Zuhause in der Altneu-Synagoge

Ein Teil kam aber auch nach Prag. Einige fanden zum Beispiel in der Altneu-Synagoge ein neues religiöses Zuhause – es ist die älteste erhaltene Synagoge Europas. »Diesen Menschen verdanken wir, dass der religiöse Ritus der Altneu-Synagoge, die orthodox ist, aufrechterhalten werden konnte. Denn die alten Prager jüdischen Familien waren weitgehend assimiliert, und die Überlebenden hätten allein nicht ausgereicht, um wieder einen geregelten religiösen Ritus in der Altneugemeinde aufzunehmen.«

Petr Brod nimmt eines der noch zu verschickenden Bücher aus dem Regal. Die aussäen unter Tränen, mit Jubel werden sie ernten heißt es – ein Zitat aus dem Psalm 126. Der Untertitel: Die jüdischen Gemeinden in der tschechoslowakischen Republik nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Worte aus dem Psalm könnten als inoffizieller Titel über Petr Brods Bibliothek stehen. Denn in ihr spiegelt sich die Geschichte und das Leben der jüdischen Gemeinden Mitteleuropas – von der Zeit vor 1000 Jahren bis in die Gegenwart.

Bei seinen Ankäufen beschränkte sich Brod zumeist auf Titel aus dem 19. und 20. Jahrhundert. »Seltene Drucke oder auch Manuskripte aus dem 16. Jahrhundert zum Beispiel sind unheimlich teuer geworden«, sagt er – das habe sein Budget schlicht nicht hergegeben. Vor allem aber: Die späteren Ausgaben erschienen weniger auf Hebräisch, sondern vor allem auf Deutsch und Tschechisch. »Meine Ambition war es, das Schrifttum in den mir und meinen Zeitgenossen zugänglichen Sprachen zu sammeln!«

Als Privatgelehrter verbindet er die Fäden, die sich zwischen seinen Büchern spinnen.

Von vornherein war Brod auch klar, dass es eine Bibliothek gibt, mit der er niemals würde konkurrieren können: mit der des Jüdischen Museums Prag. Dort gingen während des Holocaust viele Privatbibliotheken auf, teilweise sogar auf Befehl der Nazis, die in Prag das »Museum einer ausgestorbenen Rasse« anlegen wollten. Und auch im Kommunismus kaufte das Museum weiterhin wertvolle Bände auf, sodass es heute über die größte Sammlung dieser Art verfügt.

Also suchte sich Petr Brod lieber Nischen: »Es gibt zum Beispiel sehr viele Publikationen, die nur in ganz kleinen Auflagen erschienen sind. Das gilt für das tschechische oder slowakische Sprachengebiet ebenso wie für Publikationen, die im Westen erscheinen oder in Israel«, so Brod. Diese sammelte er mit Vorliebe: »Oft sind es Privatdrucke von Familien, die irgendwie die Familiengeschichte festhalten wollten und dann in einer Auflage von 100 Stück erscheinen, wenn es hochkommt. Gerade diese Sachen zu beschaffen als letzte Zeugnisse dieser Familien – das war mir ein besonderes Anliegen.«

Und nun leitet Petr Brod die nächste Phase ein: Seine Sammlung soll auf jeden Fall als Ensemble zusammenbleiben, auch wenn er sich eines Tages nicht mehr um sie wird kümmern können. Das ist der Grund, warum derzeit der Spediteur bei ihm ein- und ausgeht, um die Bücher kistenweise nach Brünn zu bringen: Dort soll ein Jüdisches Museum entstehen, das die Traditionen speziell der Gemeinden im Mährischen dokumentiert. Ein Eröffnungsdatum steht noch nicht fest, das ganze Projekt ist derzeit noch in der Planungsphase. »Aber mir war gleich klar: Das wäre ein perfekter Ort für meine Sammlung«, sagt Brod.

Und wie es aussieht, werden die mühsam über ein Leben hinweg zusammengetragenen Schätze dann bald den Grundstock bilden für das neue Museum.

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