USA

Lebensretter Affidavit

Dieser Zeitungsartikel ist dem Andenken an Morris Zeisl gewidmet. Zeisl war ein Klempner in Brooklyn. Ende der 30er-Jahre erhielt er einen Brief von wildfremden Menschen aus Wien, mit denen ihn nichts verband – außer, dass sie Juden waren, wie er selbst, und dass sie zufällig denselben Nachnamen trugen.

Die Wildfremden aus Wien hatten eine dringende Bitte: Sie wünschten sich von Morris Zeisl ein Affidavit, also eine Bescheinigung, dass sie dem amerikanischen Staat nicht zur Last fallen würden, weil ihr Gönner und Begünstiger ihnen notfalls finanziell unter die Arme greifen würde. Und was tat jener Morris Zeisl? Warf er den Wisch mit dem unverschämten Ansinnen in den Papierkorb und vergaß die Angelegenheit schnell wieder?

Nein. Er setzte sich auf den Hosenboden und antwortete den Wildfremden in Wien mit Worten voller Wärme und Herzlichkeit. Er werde ihnen helfen, schrieb er und stellte das gewünschte Affidavit aus. So kam es, dass Gertrude und ihr Mann, der Komponist Erich Zeisl, den Hafen von New York erreichten und nicht in den Gaskammern des Dritten Reiches ermordet wurden.

Anekdoten Wir alle kennen die Geschichte, wie sich die Tore Amerikas vor den jüdischen Flüchtlingen aus Europa verschlossen. Wir kennen die Bilder von den Menschenschlangen vor den amerikanischen Botschaften im nationalsozialistischen Berlin, die Anekdoten von den Verzweifelten, die auf das Jahr 1956 vertröstet wurden, da werde man ihren Visa-Antrag ganz bestimmt bearbeiten.

Die Vereinigten Staaten wollten in der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre keine Immigranten aufnehmen, schon gar keine Juden. Es gab Quoten für Einwanderer aus Deutschland und Österreich – ungefähr 30.000 pro Jahr –, die aber nur zu einem kleinen Teil ausgereizt wurden. Nur solche Einwanderer sollten ins Land gelassen werden, bei denen sichergestellt werden könne, dass sie keine finanzielle Last bedeuteten, hieß es in einer Direktive für das US-Außenministerium, die noch aus der Ära von Präsident Herbert Hoover (1929–1933) stammte. Dessen Nachfolger Franklin Delano Roosevelt behielt sie unverändert bei.

Jene Direktive wurde zum Hauptvorwand, Flüchtlingen aus Nazideutschland das Visum zu verweigern und graue Wälle voller bürokratischer Formalitäten zu errichten. Jeder kennt die »Reise der Verdammten« auf der »St. Louis«, einem Passagierschiff, das 1939 nicht in Florida anlegen durfte, sondern abdrehen musste und wieder Kurs auf Europa nahm, wo hinterher die Hälfte der Passagiere von den Nazis ermordet wurde.

Verbände Wir wissen auch, welch unrühmliche Rolle in Amerika die jüdischen Verbände spielten, die viel zu wenig taten. Bloß keine Risches machen! 1941, als der Völkermord begann, gingen die Tore endgültig zu. Die polnischen, russischen, ukrainischen, ungarischen und rumänischen Juden wurden gnadenlos im Stich gelassen.

Eine Ausstellung im Museum of Jewish Heritage an der Südspitze von Manhattan widerspricht dieser Geschichte nicht, aber sie ergänzt sie um eine wichtige Dimension. Weder die Regierung in Washington noch die meisten Verbände haben geholfen – wohl aber einzelne amerikanische Juden und auch Nichtjuden.

Da waren jene, die dafür sorgten, dass wenigstens ihre Familienangehörigen den Weg nach draußen fanden. Noch beeindruckender sind die Geschichten jener Menschen, die keine Onkel oder Tanten in Amerika hatten: Häufig suchten sie – wie die Zeisls aus Wien – auf gut Glück in amerikanischen Telefonbüchern nach Menschen, die so hießen wie sie.

Oft hatten sie damit Erfolg: Die Angeschriebenen logen wie gedruckt, bei den deutschen oder österreichischen Juden handle es sich um Verwandte, und stellten die begehrten Affidavits aus, was mitten in der Wirtschaftskrise nicht ohne persönliches Risiko war. Briefe gingen über den Atlantik. Telegramme wurden geschickt, Kongressangehörige und Senatoren behelligt. Ein paar Tausend Menschen konnten so gerettet werden.

Am Ende der Ausstellung sehen wir Fotos von glücklichen Familien – das sind jene paar, die es geschafft haben. Um die Bilder herum hängen viele leere Bilderrahmen: zur Erinnerung an jene, die hätten gerettet werden können, aber den deutschen Mördern ausgeliefert wurden.

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

 12.12.2025

Meinung

Nemo unverbesserlich

Nemo gibt mit Rückgabe der ESC-Siegertrophäe auch Haltung ab. Statt Rückgrat zu zeigen, schwimmt das Schweizer Gesangswunder von 2024 im postkolonialen Strom mit

von Nicole Dreyfus  12.12.2025

Damaskus

Syriens Regierung erteilt erster jüdischer Organisation Lizenz

Mit Rabbiner Henry Hamras Stiftung »Jüdisches Erbe in Syrien« wird erstmals seit dem Ende der Assad-Dikatur wieder eine jüdische Organisation in dem arabischen Land aktiv sein

 11.12.2025

Museum

Auschwitz-Gedenkstätte zeigt neue Ausstellung

Mit einer neuen Ausstellung will die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau das Schicksal der Häftlinge des Konzentrationslagers zeigen

von Christiane Laudage  11.12.2025

USA

An der Columbia University war Theodor Herzl Antisemit

Ein Abschlussbericht zum Antisemitismus an der New Yorker Elite-Universität zeigt, wie tief die Israel- und Judenfeindlichkeit im Lehrplan verankert war

 11.12.2025

USA

Wer hat Angst vor Bari Weiss?

Sie gilt als eine der einflussreichsten konservativen Medienmacherinnen des Landes. Aber was will die neue Chefin von CBS News eigentlich?

von Sarah Thalia Pines  11.12.2025

Brigitte Macrons Ausfall gegen Aktivistinnen entfacht eine landesweite Debatte.

Frankreich

First Lady an Abittans Seite – und gegen Feministinnen

Brigitte Macrons Ausfall gegen Feministinnen wirft ein Schlaglicht auf Frankreichs Umgang mit Protest, sexueller Gewalt und prominenten Beschuldigten.

von Nicole Dreyfus  11.12.2025

Nachruf

Gebäude wie Jazzmusik

Frank Gehry hat die Architektur tanzen lassen – was auch mit seinem Judentum zu tun hatte

von Johannes Sadek, Christina Horsten  10.12.2025

Hollywood

»Stranger Things« trotzt Boykottaufrufen

Während Fans den Start der letzten Staffel des Netflix-Hits feiern, rufen Anti-Israel-Aktivisten zur Ächtung der Serie auf

von Sophie Albers Ben Chamo  10.12.2025