Ukraine

Leben im Dazwischen

Yurek Yakubow ist mit seinen Eltern und der Großmutter aus Charkiw in den Süden geflohen – doch bald werden sie weiterziehen müssen

von Stefan Schocher  29.04.2022 13:30 Uhr

Fühlt sich als Ukrainer – und nennt zugleich das Judentum die Grundlage seiner Identität und seiner Prinzipien: Yurek Yakubow Foto: privat

Yurek Yakubow ist mit seinen Eltern und der Großmutter aus Charkiw in den Süden geflohen – doch bald werden sie weiterziehen müssen

von Stefan Schocher  29.04.2022 13:30 Uhr


Für Bilder, Fotos und Ansichten hat sich Yurek Yakubow schon immer interessiert. Ansichten seiner Stadt. Er hat sich durch Berge von Bildern gewühlt, die deutsche Soldaten gemacht haben, die im Zweiten Weltkrieg in Charkiw waren: zerschossene Häuserzeilen, zerborstene Baumreihen, ausgebombte Industriekomplexe, hungernde Menschen, die um Essen anstehen, Tote.

Yurek Yakubow hat die Geschichte seiner Stadt studiert – die hellen Seiten wie die dunklen. Weil es ihn interessiert. Weil das seine Stadt ist. Die Stadt seiner Eltern. Als Relikte der Vergangenheit waren diese Fotos einer Vergangenheit voller Tod und Leid durch seine Finger gewandert. Einer Vergangenheit, die seine Großeltern miterlebt haben.

bilder Und jetzt? »Jetzt haben wir ähnliche Bilder – nur, dass es 2022 ist«, sagt er. Weit weg ist er von Charkiw. Weit weg von seiner Stadt, seiner Werkstatt, dem Café, in dem er gerne saß, seiner Wohnung mit dem Blick in eine Baumkrone.

»Galut« nennt Yakubow die Gegenwart – nicht mehr auf der Flucht, aber auch nicht angekommen.

»Galut« nennt er die Gegenwart. »Man ist irgendwo dazwischen.« Nicht mehr auf der Flucht, nicht angekommen, nicht auf der Abreise. Dazwischen. »Ich weiß nicht, wann ich wieder zurück kann«, sagt Yurek. Die eigene Wohnung ist zwar noch intakt, aber die Wohnung der Großmutter liegt in einem Stadtteil, der schwer beschossen wurde.

Ob es die Werkstatt noch gibt, in der er bis zuletzt Bastelkurse für Kinder veranstaltet hat, weiß er nicht. Ebenso wenig, was mit den Kindern passiert ist, die er betreut hat. Wo sie sind? Ob es all die Ukulelen noch gibt, die er selbst gebaut hat? Schmerzhaft sei das, nur eine einzige Gewissheit zu haben: dass der Inhalt des Kühlschranks verrottet. Und dennoch nennt er sich: »einen Glückspilz«.

Erste-Hilfe-Kurse Als 2014 der Krieg im Osten des Landes begann, hat Yurek damit angefangen, sich mit der Idee abzufinden, dass so etwas passieren könnte. Damals hat er auf zivilgesellschaftlicher Ebene Verpflegung für die Truppen an der Front im Südosten organisiert und viel eigenes Geld investiert. »Viele haben seither Erste-Hilfe-Kurse absolviert, viele wissen, wie man mit Waffen umgeht«, sagt er. Das sei jetzt nützlich.

Er selbst hat sich damals Handbücher zu der militärischen Disziplin, die er damals an der Uni hatte lernen müssen, aus dem Internet heruntergeladen: Minenräumung. Als die russischen Truppen im vergangenen Herbst an der Grenze aufmarschierten, sei das wie eine Erinnerung gewesen: »Wenn etwas aussieht wie die Vorbereitung zu einer Invasion, dann kann es sehr gut sein, dass es auch die Vorbereitung einer Invasion ist.« Und als es dann passierte, war rasch klar: nichts wie weg!

Seither steckt er fest in seinen drei Leben, wie er sagt: Arbeiten, weiter Musik machen mit seiner Band »Alkohol Ukulele« und Freiwilligenarbeit leisten für Geflüchtete und Soldaten. Dazwischen: die Eltern und die Großeltern versorgen.

band »Krieg macht kreativ«, sagt Yurek Yakubow. Mehrere neue Lieder hat die Band in den vergangenen Wochen aufgenommen – während die Mitglieder quer über die Ukraine verstreut sind. Aufgenommen auf Laptops, mit Telefonen, zusammengemischt von einem Bekannten. Auch Touren durch die Ukraine gab es. Gute Zeiten waren das.

Vor allem für seine Großmutter sei das jetzt alles ein Horror, erzählt Yurek Yakubow. Während der Fahrt nach Krywyj Rih habe sie immer und immer wieder über 1943 gesprochen, wie die Deutschen nach Charkiw kamen, und davon erzählt, wie viel Glück sie doch heute hätte, weil sie ein Auto haben. Doch kurz darauf ging es während der Fahrt kaputt.

Irgendwie haben sie es letztendlich doch noch geschafft nach Krywyj Rih. Weil ihr das Kurzzeitgedächtnis Streiche spielt, frage die Großmutter nun immer und immer wieder, wer denn jetzt komme: die Deutschen oder die Russen und vor wem sie sich jetzt fürchteten. Alles erinnere sie an früher: der Alarm, die Luftschutzräume, die Unterstände. Und dennoch sagt Yurek: »Wir haben Glück« – auch wenn die russische Armee ihnen derzeit gerade viel Lebenszeit stehle.

Aber es geht weiter – in der Fremde, in der Vertreibung, in diesem Zwischenstadium zwischen Flucht, Ankunft und erneuter Flucht. Denn wie lange sie in Krywyj Rih bleiben können, wissen sie nicht. Die Front ist 50 Kilometer entfernt. Da stellen sich dann Fragen: »Kämpfen? Nicht kämpfen und weiter arbeiten in den freiwilligen Hilfsdiensten?«

JUDENTUM Er fühle sich voll und ganz als Ukrainer, sagt Yurek – und zugleich sei das Judentum die Grundlage seiner Identität. Ohne Widerspruch oder Konflikte. Das Judentum nennt er »das Fundament meiner Prinzipien«. So spendet er einen Teil seines Einkommens und fährt Tag für Tag nach seiner Erwerbsarbeit mit einem Kleinlaster in der Stadt herum.

Wenn er an die Ukraine denkt, fällt ihm das Wort »Koexistenz« ein.

Wenn er heute an die Ukraine denke und dieses Land beschreiben müsse, so käme ihm vor allem das Wort »Koexistenz« in den Sinn, sagt er. All die Jahre, in denen man normal ohne Unterschiede zusammengelebt habe. All die Jahre, in denen man einen Staat aufgebaut und einen gesellschaftlichen Zusammenhalt erarbeitet habe.

Nicht zwischen Juden und anderen, sondern zwischen allen Teilen dieser Gesellschaft und darunter eben auch Juden. All das resultiere aus dem, was die Ukraine aus ihrer Geschichte gelernt habe: eine grundlegende Basis des Zusammenlebens. Ein Modell nennt Yurek es, in dem Probleme und Unterschiede akzeptiert würden und man sich darauf einige, den anderen sein zu lassen, wie er ist. »Ich mag das«, sagt er.

lieder Yurek hat die Geschichte seiner Stadt erkundet, hat jüdische Lieder gelernt, Lieder aus der Region, Lieder aus Charkiw. Lieder, die in die Gesamtgeschichte dieser Stadt verwoben sind, genauso, wie es die jüdische Kultur ist. Eine Geschichte, in der wohl eines Tages das Jahr 2022 in einem Kapitel mit dem Jahr 1943 erinnert werden wird.

»Ich weiß nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn ich meine Orte in Charkiw zerstört sähe«, sagt Yurek Yakubow nachdenklich. Die Werkstatt, das Viertel, die Straßen, das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist. Orte, die in diesen Tagen so weit entfernt liegen wie nie zuvor.

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