Grossbritannien

Jüdisch, britisch, deutsch

Kamen vor 77 Jahren nach Großbritannien: der Berliner Fritz Lustig (97) und die Breslauerin Hortense Gordon (96). Foto: Daniel Zylberstein

Für einen gewöhnlichen Mittwochmorgen ist der Konferenzsaal des Londoner jüdischen Kulturzentrums JW3 ziemlich voll. Den ganzen Tag über sind Vorträge geplant, später soll es auch einen Empfang geben. Am folgenden Tag wird es mit Seminaren weitergehen.

Beachtlich ist die Ausdauer der Teilnehmer, die die Vorträge konzentriert verfolgen. Etliche von ihnen sind zwischen 85 und 97 Jahre alt. Das Thema der Seminare behandelt ihre Geschichte, und wie sie vor mehr als 70 Jahren aus Deutschland, Ungarn oder Österreich nach Großbritannien kamen.

Zeitzeugen Anlass der Konferenz ist das 75-jährige Gründungsjubiläum des Verbands jüdischer Flüchtlinge, der Association of Jewish Refugees (AJR). Er ist das Herz deutschsprachiger Juden im Exil in Großbritannien. Mit den verbleibenden Zeitzeugen und deren Nachkommen möchte die AJR das Jubiläum feiern. Sie will aber auch Rückschau halten auf das, was die Einwanderung deutschsprachiger Juden in Großbritannien geleistet hat. Darüber hinaus sollen geschichtliche Lücken gefüllt werden, wie der Einsatz der Anglikanischen Kirche oder der Quäker zur Rettung jüdischer Flüchtlinge.

Peter Kurer (84), selbst Flüchtling aus Wien, verdankt den Quäkern seine Rettung. Doch sie hätten noch mehr getan, betont er. »Sie haben Chamberlain über den damaligen Innenminister Samuel Hoare, selbst Quäker, zur Aufnahme der Flüchtlinge überreden können. Und gleichzeitig genossen sie genug Vertrauen in Deutschland, weil sie im Ersten Weltkrieg dort Suppenküchen betrieben hatten.«

Identität Zwischen den Vorträgen ist die Atmosphäre leicht angespannt. Während Großbritannien die Älteren aus der Hölle des nationalsozialistischen Deutschlands rettete, sprechen nahezu alle Teilnehmer der zweiten und dritten Generation davon, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt haben. Zum einen hätten sie immer wieder das Gefühl, trotz allem mit Deutschland verbunden zu sein. Zum anderen könnten sie die Enge und den antieuropäischen Geist des bevorstehenden Brexit unmöglich mit der eigenen Identität vereinbaren.

Auch die Londoner Reformrabbinerin Julia Baroness Neuberger wird bald Deutsche sein. »Ich bin Britin, war aber niemals Engländerin, bin permanent Europäerin, mit deutschen Wurzeln und einem Grundstück in Irland«, verkündet sie vor den Versammelten.

Flüchlingshilfe Neuberger glaubt, dass ihr familiärer Hintergrund sie zur Verantwortung verpflichtet. »Er muss Basis unserer Hilfe für die heutigen Flüchtlinge sein!« Mit einem Hilfsprogramm für Flüchtlinge in der West London Synagogue möchte sie dieser Verantwortung gerecht werden.

Das Projekt schaute sie der Gemeinde des ebenfalls in einer Flüchtlingsfamilie geborenen Rabbiners Jonathan Wittenberg ab. Auch er ist hier und erzählt von jenen Verwandten, die aus Wien flüchteten, und den anderen, die man im Dritten Reich ermordete.

Im nächsten Teil der Veranstaltung haben wieder Zeitzeugen das Wort. Man staunt über die Klarheit und die Energie des ehemaligen Berliners Fritz Lustig (97): »Ich habe Großbritannien mit einem Ausbildungsvisum der Quäker betreten, und 77 Jahre später bin ich immer noch hier.« Sich des aufmerksamen Publikums bewusst, macht er einen Witz: »Vor Ihnen steht also einer der erste illegalen Einwanderer des Vereinigten Königreichs.«

Als man nach Beginn des Krieges alle Deutschen im Vereinigten Königreich als potenzielle Feinde betrachtete, wurde Lustig auf der Isle of Man interniert. Doch rasch ließ man ihn wieder frei. Er meldete sich bei der britischen Armee und diente bald im Geheimdienst, um mit seinen Sprachkenntnissen deutsche Kriegsgefangene in britischen Gefangenenlagern zu belauschen.

Hausmädchen Dann ergreift Hortense Gordon (96) das Wort. Als 19-Jährige verließ sie 1939 Breslau und kam in die südenglische Grafschaft Surrey, um dort als Hausmädchen in einem Gutshaus zu arbeiten. Ihr Hausarbeitsvisum, eines von 20.000, rettete ihr das Leben. Zwar kam sie mit heiler Haut davon, doch war die Arbeit alles andere als ein Zuckerschlecken: Ihr Tag begann um fünf Uhr morgens und dauerte bis in den späten Abend. »Ich hatte gar keine Zeit, über meine Lage nachzudenken«, gesteht sie.

Neben Lustig und Gordon kommt auch der Urenkel des großen Berliner Rabbiners Leo Baeck, James Dreyfus, aufs Podium. Er erzählt mit Tränen in den Augen von seinem Urgroßvater. Auf einem Schwarz-Weiß-Film sind er als kleiner Junge und Leo Baeck zu sehen.

Dann schildert der immer noch amtierende Labour-Oberhausabgeordnete Lord Alf Dubs (84), ehemaliger jüdischer Flüchtling aus der Tschechoslowakei, voller Stolz seinen derzeitigen Einsatz im britischen Parlament für die heutigen Flüchtlinge.

ERinnerung Am Ende des Tages betont AJR-Geschäftsführer Michael Newman, dass sich ein wichtiger Teil der Arbeit des Verbands seit vielen Jahren dem Erinnern widmet. So kümmert sich die AJR gemeinsam mit anderen Organisationen darum, dass in London eine nationale Holocaust-Gedenkstätte entsteht.
Am folgenden Tag will Newman zusammen mit den Zeitzeugen die Aufgaben der nächsten Generationen diskutieren. Die Jubiläumsfeier, sagt er, sei eine wichtige Gelegenheit, sich miteinander auszutauschen. Denn in einigen Jahren, betont er, werde das nicht mehr möglich sein

www.ajr.org.uk

Antisemitismus

Angriff auf Synagoge und Restaurant in Melbourne

Während etwa 20 Menschen Schabbat feierten, setzte ein Mann die Tür des Gebäudes in Brand. Kurz darauf wurde ein koscheres Restaurant gestürmt

 05.07.2025

Belgien

»Gaza gleich Auschwitz«-Karikatur gewinnt Wettbewerb

Der erste Preis des Press-Cartoon-Belgium-Wettbewerbs ging in diesem Jahr an eine Zeichnung einer Landkarte, in der die Umrisse des Eingangstores von Birkenau auf die des Gazastreifens gelegt sind

von Michael Thaidigsmann  04.07.2025

Kommentar

Zürich sollte Francesca Albanese keine Bühne bieten

Die antisemitische UN-Sonderberichterstatterin tritt am Freitag in der Zürcher Zentralwäscherei auf - subventioniert durch die Steuerzahler der Stadt

von Ronny Siev  03.07.2025

Großbritannien

Unterhaus: Palestine Action als Terrororganisation eingestuft

Mitglieder der radikalen Anti-Israel-Gruppe waren im Juni auf einen britischen Luftwaffenstützpunkt eingedrungen und hatten dort Flugzeuge beschädigt

 03.07.2025

Ukraine

Putins Krieg und Trumps Frieden

Während sich die Medienaufmerksamkeit auf Nahost konzentriert, bombardiert Russland weiterhin das Land. Nun schlägt sogar der US-Präsident neue Töne an

von Michael Gold  03.07.2025

Australien

Zwei Krankenpfleger, die damit drohten, jüdische Patienten zu töten, haben Arbeitsverbot

Im Februar sorgte ein TikTok-Video für Abscheu und Empörung, in dem zwei Krankenpfleger ihrem blanken Judenhass freien Lauf ließen. Nun stehen sie vor Gericht

 02.07.2025

Großbritannien

Warten auf »Bridgerton«

Die Sehnsucht nach der vierten Staffel des Netflix-Hits ist groß. Aber wie war eigentlich das reale jüdische Leben in der Regency?

von Nicole Dreyfus  29.06.2025

Glastonbury Festival

Kritik an antiisraelischen Parolen

Neben der Musik sorgt Hetze gegen Israel für Aufsehen – mit Folgen für die BBC, die alles live übertragen hat

 29.06.2025

Glastonbury

Bob Vylan ruft »Death, death to the IDF« – BBC überträgt es

Beim größten Open Air Festival Großbritanniens rufen Musiker antiisraelische Parolen

 28.06.2025