Bern

Juden, die Kinder fressen

Der mittelalterliche »Kindlifresser«-Brunnen in Bern Foto: imago

Bern

Juden, die Kinder fressen

Der »Kindlifresser«-Brunnen ist seit Langem eine Touristenattraktion – mit judenfeindlicher Aussage

 24.07.2020 14:00 Uhr

Roy Oppenheim wundert sich: In der Schweiz wird dieser Tage viel über Rassismus diskutiert und über Statuen von historischer Persönlichkeiten, die durch Rassismus auffielen.

Doch über eine berühmte Statue am Kornhausplatz in der Hauptstadt Bern – seit vielen Jahrzehnten Touristenattraktion und Ziel von Schulausflügen – rege sich kaum jemand auf, stellt der ehemalige Leiter der Abteilung Kultur des Schweizer Fernsehens fest. Auch – oder, je nach Sichtweise, schon gar nicht – nicht die Bewegung Black Lives Matter.

VORWURF RITUALMORD Der Berner »Kindlifresser«-Brunnen, schreibt Oppenheim in einem Gastbeitrag für das »St.Galler Tagblatt«, sei »eine judenfeindliche Skulptur inmitten unserer stolzen Bundeshauptstadt«. Sie gehe auf den im Mittelalter oft erhobenen Vorwurf gegen Juden zurück, der auch in Bern erhoben wurde, »um die jüdische Bevölkerung zu drangsalieren«, schreibt er.

Denkmäler können eine Versöhnung behindern und alte Vorurteile zementieren.

Wider gesichertes historisches Wissen werde der »Kindlifresser«-Brunnen in der Berner Altstadt aber meist als Kinderschreck- oder Fasnachtsfigur dargestellt – oder als eine »Darstellung des antiken Gottes Saturn oder Chronos« gedeutet. Damit werde die wahre Entstehungsgeschichte der Figur verschleiert, sagt Oppenheim.

»JUDENHUT« Vielmehr stelle die Figur einen Juden mit einem typischen Spitzhut dar, den Juden im Mittelalter als Erkennungszeichen tragen mussten. Erst viel später sei dieser »Judenhut« vom Davidstern abgelöst worden.

Auf dem Brunnenmotiv verschlingt ein Jude einen kleinen nackten Jungen.

Was ist zu sehen? Auf dem Brunnenmotiv verschlingt ein Jude einen kleinen nackten Jungen. In einem Sack befinden sich noch weitere Kinder. Noch 1857, als der Brunnen restauriert wurde, habe man in der Berner Presse lesen können, dass der Brunnen an ein Ereignis erinnere, als »die Juden in dieser Stadt ein Christkind langsam zu Tode marterten – kreuzigten, woraufhin sie vom Rat von Bern verbrannt worden seien«.

Auch am Bodensee gebe es eine Kapelle, in der ein Andachtsbild mit einem Knaben zu sehen sei, der angeblich von Juden getötet wurde.

DISTANZIERUNG In der Schweiz müsse man endlich die »Fastnachtslegende« begraben, die nach wie vor in Stadtführungen und Geschichtsbüchern unkritisch verbreitet werde, fordert Oppenheim. »Wir müssen den Mut aufbringen, den antisemitischen Charakter der ›Kindlifresser‹-Figur zuzugeben. Ein Minimum wäre ein entsprechender Erklärtext in Deutsch und Englisch, in dem die Skulptur in ihren historischen Kontext eingebettet wird und sich die Stadt Bern ›unmissverständlich vom Charakter dieser judenfeindlichen Brunnenfigur distanziert«, fordert der Publizist in seinem Gastbeitrag.

Die Wurzeln von Hass, Rassismus, Antisemitismus gingen oft auf Traditionen zurück, die unkritisch über Jahrhunderte überliefert worden seien, sagt Oppenheim.

Die »Black-Lives-Matter«-Debatte sei deshalb ein willkommener Anlass, die »eigene Kultur nach solchen menschenverachtenden Überlieferungen zu durchkämmen.« Denkmäler könnten eine Versöhnung behindern und so alte Vorurteile zementieren.

Shlomo Graber anlässlich eines Vortrags in einer Schule in Rosenheim im Jahr 2017.

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