Großbritannien

Jiddisch verbindet

Musik, Lyrik, Literatur und Theater beim Sprachkurs »Ot Azoy« in London Foto: Gil Karpas / Jewish Music Institute

Die Größen aus Jiddischland unterrichten hier: Zalmen Mlotek, amerikanischer Dirigent, Komponist und Koryphäe in jiddischer Musik, der mit Stars wie Mandy Patinkin und Joel Grey arbeitete, oder auch Helen Beer aus Melbourne, die bereits mit 17 anfing, Jiddisch zu unterrichten, und heute an der Oxford University lehrt. Sie leitet den einwöchigen Sprachkurs »Ot Azoy« in London. Ot Azoy bedeutet so viel wie »Das ist es« und findet im Londoner Zentrum statt, genauer an der School of Oriental and Asian Studies (SOAS), wo auch das Jewish Music Ins­titute untergebracht ist, das den Kurs seit fast 25 Jahren ausrichtet.

An einem Sonntagvormittag trudeln die Teilnehmenden zum Einführungstag ein. Ich bin unter ihnen, und in meiner bunten Anfängerklasse sind wir zu acht. Da sind die Literaturstudentin Radvile aus Litauen und Weronika, polnischer Herkunft, die gerade an einer Übersetzung arbeitet. Die ältere Generation überwiegt. Sandra ist in London mit einer Mutter aufgewachsen, die immer Jiddisch in den Alltag einsprenkelte. Es sind warmherzige Erinnerungen, und spricht man mit anderen Schülern auf dem Campus, kommen viele aus einem Umfeld, wo ältere Verwandte Jiddisch sprachen, die Sprache aber nicht weitergegeben haben.

Witze verstehen

Stephen ist bereits in Level 4 – der höchsten Stufe –, er stammt aus Liverpool und erinnert sich an seine erste Begegnung mit dem Jiddischen in den 80er-Jahren: »Mein Vater war Vorsitzender des Vereins jüdischer Veteranen und lud eine jiddische Theatergruppe ein. Ich war erstaunt vom großen Publikum, das die Truppe quer durch die jüdische Gemeinde anzog. Sie verstanden alle Witze – nur ich nicht. Später lernte ich, jiddische Lieder zu singen, aber wir hatten kein Jiddisch an den jüdischen Schulen, die ich in Liverpool besuchte.« Zudem gründete er in London die Yiddish Ukulele Group, und allmählich spürte er die Notwendigkeit, die Sprache besser zu verstehen. Er suchte sich Lehrer und Kurse in England und auch darüber hinaus. Seit 2016 ist er bei Ot Azoy dabei.

Doch nicht in jeder Familiengeschichte ist das Jiddische mit freudigen Erinnerungen verbunden. Micky ist in Israel geboren, wohin ihre Eltern aus Deutschland flüchteten, bevor sie in den 50er-Jahren nach London zogen. »Jiddisch war die Muttersprache meines Vaters«, erzählt sie. »Meine Großmutter sprach Jiddisch, aber zu Hause habe ich es nie gehört. Ein Grund dafür war meine Mutter, die aus einer deutschen Intellektuellen-Familie kam und für die Jiddisch keine angemessene Form der Kommunikation war. Es gehörte zu Leuten, die nicht den gleichen Bildungsstand hatten, meinte sie. Ich wollte aber schon immer Jiddisch lernen.«

Micky ist über 70 und mit mir in der Anfängerklasse. Wehmütig ergänzt sie: »Meine Mutter lebt noch, und sie kann bis heute nicht nachvollziehen, warum ich Jiddisch lernen möchte.« Micky empfindet die Sprache ganz anders: »Sie ist unglaublich ausdrucksstark und sehr, sehr lustig. Es gibt so viel Musik, Lyrik, Literatur und Theater. Ich liebe diesen Reichtum der Sprache.«

»Mayn nomen iz Sonia. Vos iz dayn nomen?«

Der Kurs beginnt mit der Einführung ins hebräische Alphabet. Meine rudimentären Kenntnisse der Druckschrift sind nützlich, aber nach der Einführung der Handschrift brummt mir der Schädel. Anders als bei meinen englischsprachigen Kommilitonen erweisen sich meine aus der Heimat mitgebrachten Deutschkenntnisse als äußerst hilfreich – zumindest, was das Hörverständnis betrifft, beispielsweise wenn die Lehrerin loslegt mit: »Mayn nomen iz Sonia. Vos iz dayn nomen?« Bezüglich der Transliteration, die die Sprache in lateinische Buchstaben überträgt, hilft etwas Fantasie, um zu dekodieren, was gemeint ist. Der Stundenplan setzt sich zusammen aus Sprachvermittlung mit Fokus auf Grammatik und Literatur sowie Gesang, Konversation, Theater, Hilfe bei Hausarbeiten und Vorträgen.

Mlotek leitet die Gesangsklasse, in der die Sprachschüler mit denen des Gesangskurses »The Golden Peacock« zusammentreffen. »Ich habe bewusst einige unbekannte Songs dazugenommen, die über den Traum von Israel geschrieben wurden und was Israel für das jüdische Volk bedeutete«, erklärt er seine diesjährige Liedauswahl. Für Mlotek, der aus den USA kommt, hat der Kurs einen besonderen Reiz, denn hier trifft er auf Kollegen aus ganz Europa, die eine ähnliche Arbeit machen wie er.

Einer davon ist Simo Muir von der Universität Uppsala in Schweden. Er hält einen Vortrag über das Leben des Kantors Leo Rosenblüth, der 1931 aus Frankfurt nach Schweden emigrierte und dort in der Nachkriegszeit jiddische Lieder sang. Rosenblüth hatte ein dankbares Publikum, da Schweden zur Heimat vieler jiddischsprachiger Schoa-Überlebender wurde. Muir überrascht seine Zuhörer mit der außergewöhnlichen Stellung, die das Jiddische heute in Schweden hat: »Es gilt offiziell als Minderheitensprache, was bedeutet, dass Jiddisch vom Staat gefördert wird und Kindern in säkularen Schulen Jiddisch beigebracht wird.
Schwedisches Radio und Fernsehen senden jiddische Talkshows, Programme für Kinder und Dokus in Jiddisch«, berichtet er. »Es ist wichtig, dass junge Leute Jiddisch auch im Fernsehen erleben. Es hilft, die Sprache zu legitimieren, und präsentiert sie als etwas Modernes, nicht bloß aus der Vergangenheit.«

»Jiddisch ist unglaublich ausdrucksstark und sehr, sehr lustig.«

Kursteilnehmerin Micky

Eine andere Form der Annäherung bietet Shoshana Simons kurzer Experimentalfilm Esther, Rivke, Chayale. Fragen von Identität in den verschiedenen Generationen werden darin aufgeworfen. Simon ist in einer assimilierten jüdischen Familie in Florida groß geworden und hat gerade ihren Master in Film in Berlin abgeschlossen. Die Frage nach Identität stellt sich für sie insbesondere in der Diaspora, womit vielfach der Verlust der gelebten jüdischen Kultur und eine tief sitzende, aber verschüttete Verbundenheit einhergehe. Dies habe zu ihrer filmischen Auseinandersetzung mit dem Judentum und seiner jiddischen Facette geführt. Es habe ihr Verbundenheit und Erdung gebracht. Ihr nächstes Projekt heißt The Shtetl Multiverse.

Auch Simons Film liefert reichlich Denkanregung, und die Themen Verlust und Verbundenheit ziehen sich wie ein roter Faden durch die vollgepackte Woche. Und dann ist da noch das Klezfest. Hier kommen Musiker und Tänzer zusammen, die abends zu Jamsessions einladen. Auf all diese Arten tummeln sich etwa 160 von der jiddischen Kultur begeisterte Menschen auf dem Campus, etwa 70 davon sind Sprachschüler, die aus ganz Europa und Amerika angereist sind.

Jiddisch verbindet auch die miteinander, die es heute lernen.

Ich geselle mich zur kleinen Theatergruppe, die von Helen Beer geleitet wird. Als Muttersprachlerin hat ihr Jiddisch eine Natürlichkeit, der man selten begegnet und die sehr angenehm ist. Die meisten hier sind schon lange dabei, sodass das Jiddische in den Unterhaltungen überwiegt. Ich kann der Konversation zur Themensuche gut folgen und lerne – gefühlt – mehr als im eigentlichen Sprachunterricht. Hier wird zudem das kosmopolitische Flair von Ot Azoy besonders spürbar, denn die ferne Heimat der Schüler ist in ihren Akzenten zu hören: New York, Prag, Russland, Irland … Unsere kleine Darbietung am Ende des Kurses dreht sich um das Thema »Bewahren« – der Gegenpol zum Verlust.

Welche Momente der intensiven Woche sind besonders hängen geblieben? Micky war von den Gedichten angetan. Auch Stephen zitiert begeistert ein Gedicht – allerdings eines, das er mit viel Spaß mit einer Kommilitonin selbst verfasst hat. Und wie nutzt man den geballten Input außerhalb des Kurses? »Ich würde gern etwas Literatur lesen können, was ich mit einem guten Wörterbuch an meiner Seite jetzt schaffen könnte«, sagt Micky. Stephen hat ein ganzes Spektrum an Einsatzmöglichkeiten: »Ich bin Vorsitzender des Yiddish Café Trust, und wir organisieren das Yiddish Open Mic Café, das Wochenende Yiddish Sof Vokh, und wir entwickeln gerade ein jiddisches Theaterprojekt.« Mir wird vor allem die besondere Atmosphäre des Kurses in Erinnerung bleiben: die Freude aller, hier zu sein, die Leichtigkeit des Austauschs und die vielen spannenden Lebensgeschichten samt der schmerzlichen Erfahrungen mancher, die dazu führten, sich dem Jiddischen zuzuwenden. Jiddisch schafft nicht nur eine Verbindung zur Vergangenheit, sondern verbindet auch die miteinander, die es heute lernen.

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