Griechenland

Jerusalem des Balkans

Jüdisches Thessaloniki: Monastiriótes-Synagoge (o.l.), Yeni Cami (o.r.), Allatini-Getreidemühle (u.l.), Jüdisches Museum (u.r.) Foto: Romiosini / (M) Frank Albinus

Man muss etwas genauer hinschauen, wenn man durch die Straßen der Innenstadt von Thessaloniki läuft. Erst dann sieht man die Hinweise auf die jüdische Geschichte der Stadt: ein für das heutige Stadtbild untypischer neoklassizistischer Bau, der Name einer Einkaufspassage, die Bezeichnung einer Straße und die Inschrift einer marmornen Grabtafel, die beinahe zufällig in die Fassade eines Hauses eingesetzt zu sein scheint.

Es gibt viele jüdische Orte in Thessaloniki. Sie sind Nachweis genug, dass die nordgriechische Großstadt auch und vor allem – zumindest in den vergangenen 500 Jahren – eine jüdische gewesen ist. Bereits vor 2.000 Jahren lebten hier Juden, doch erst nach der Flucht der Sefarden aus Spanien 1492 wurde Thessaloniki zu einer Hochburg jüdischen Lebens.

architektur Rena Molho bedauert, »dass sich die Stadtväter bis vor Kurzem noch zu wenig mit der Geschichte der Stadt ernsthaft auseinandergesetzt haben«. Die Historikerin ist Autorin des vor einigen Monaten im Kölner Romiosini-Verlag erschienenen Bandes Jüdische Orte in Thessaloniki. Ein historischer Rundgang.

Weil Molho, selbst Jüdin aus Thessaloniki, die Besonderheiten der präsentierten Gebäude bis ins Detail begreifen wollte, hat sie die Architektin Vilma Hastaoglou-Martinidis als Koautorin hinzugeholt. Molhos Buch ist der erste Versuch, alle öffentlichen jüdischen Bauten, Gedenkstätten und Persönlichkeiten ihrer Heimatstadt vorzustellen.

Auf Englisch hatte Molhos Buch bereits im Vorfeld für großes Interesse gesorgt. So war es nun an der Zeit, auch der deutschsprachigen Leserschaft diese Orte, ihre Entstehungsgeschichte und ihre Funktion näherzubringen. Wie könnte man sonst erfahren, dass Thessaloniki heute drei Synagogen hat und das Zollgebäude im historischen Teil des Hafens, der berühmte Modiano-Markt, alle neoklassizistischen Villen und sogar das Gebäude, in dem das alte archäologische Museum untergebracht ist, einst jüdische Besitzer hatten? All dies seien historische jüdische Orte, betont Rena Molho. Mit ihrem Buch will sie ihre Heimatstadt zum Erinnern auffordern.

Würdigung Seit Jahren kämpft die Tochter eines jüdischen Händlers aus Thessaloniki darum, dass die jüdischen Orte und ihre ehemaligen Besitzer auf Gedenktafeln gewürdigt werden. So wie etwa im Fall der Villa Allatini, in der sich heute die Bezirksverwaltung befindet. Nirgendwo sei ein Schild angebracht, auf dem die Herkunft der Villa erklärt wird, bedauert Molho. Dabei sei Allatini ein großer Mäzen der Stadt gewesen, zu dessen Beerdigung rund 12.000 Menschen kamen.

Rena Molho weiß, wovon sie spricht. Die Historikerin begann ihr Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Später folgte der Besuch der Aristoteles-Universität von Thessaloniki. Ihre Doktorarbeit schrieb sie in Straßburg zum Thema »Die Juden Griechenlands«. Damals gab es kaum Quellen, derer sie sich bedienen konnte. Umso dringlicher erschien ihr der Gedanke, dass die Geschichte der Juden von Thessaloniki nicht in Vergessenheit geraten darf. So entstand ihr erstes Buch: Die Juden Thessalonikis 1856–1919.

Die jüdische Gemeinschaft erlebte in dieser wichtigen Zeit, bedingt durch den zunehmenden Verfall des Osmanischen Reiches, große Reformen. Man bezeichnet diese Periode auch als »zweite Renaissance der Juden Thessalonikis«. Molho wurde für die Arbeit mit dem Preis der Athener Akademie ausgezeichnet. Ihr zweites Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen: Salonica and Istanbul: Social, Political and Cultural Aspects of Jewish Life. Darin werden Themen wie das Judenspanisch oder das jüdische Theater behandelt.

Erinnerungstilgung Mit ihrem dritten Buch füllt Molho wieder eine Lücke. Ein wichtiges Motiv beim Schreiben war für sie der Kampf gegen die »Mnemoktonia«, der Erinnerungstilgung also. Viele Christen wollten vergessen, dass bis zum Einmarsch der Nazis ungefähr ein Viertel von Thessalonikis damals etwa 200.000 Einwohnern jüdisch war. Die Stadt galt als »Jerusalem des Balkans«. Die Nazis seien auch deshalb so erfolgreich gewesen, weil viele Griechen mit ihnen kollaboriert haben, schreibt Rena Molho.

»Ich bin eine jüdische Griechin, die nicht alleine dastehen möchte im Wissen um ihre Geschichte«, erklärt die Historikerin. Das Problem des Vergessens sei kein jüdisches, sondern ein christliches. »Wir Juden haben Hitler und alle Hitlers dieser Welt besiegt.« Aber, und das sei schließlich nicht zu verleugnen: »Wir haben auch immer viele Freunde gehabt.«

Bürgermeister Einer dieser Freunde ist Molhos ehemaliger Schulkamerad Jiannis Boutaris, der heutige Bürgermeister von Thessaloniki. Dieser habe den Weg für das neu entstandene Interesse an der jüdischen Gemeinde geebnet.

In diesem Jahr hat Rena Molho endlich wieder israelische Touristen auf den Straßen ihrer Heimatstadt reden hören. Manche von ihnen hielten sogar ihr Buch über die jüdischen Orte in der Hand. In solchen Momenten spürt sie, dass die Geschichte der Juden ihrer Stadt nicht in Vergessenheit geraten wird.

Rena Molho und Vilma Hastaoglou-Martinidis: »Jüdische Orte in Thessaloniki. Ein historischer Rundgang«. Romiosini, Köln 2011, 85 S., 15,80 €

Im Archäologischen Museum Thessaloniki ist noch bis zum 30. September die Ausstellung »Die Juden von Thessaloniki« zu sehen. www.amth.gr

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