Litauen

Irgendwie vergessen

Kaunas, die zweitgrößte Stadt Litauens, ist neben Esch/Alzette in Luxemburg und dem serbischen Novi Sad in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstadt. Eine gigantische Lichtshow mit einer Choreografie, die an die Verfolgung zahlreicher Bürger erinnerte, wurde kürzlich an die Fassade der Zalgiris-Arena projiziert und läutete das Kulturhauptstadtjahr mit einer visuellen Zeitreise ein.

Mehr als 40.000 Zuschauer sahen sich das Freilicht-Spektakel an und erlebten mit, wie im ersten Akt der Kaunas-Trilogie ein eigens errichtetes Gebäude symbolisch umgestürzt – und »The Beast«, die Stadt Kaunas, zum Leben wiedererweckt wurde. Kernstück des Auftakts ist die Trilogie »Mythos von Kaunas« – an drei Wochenenden wird eine neue, identitätsstiftende Legende aufgeführt.

Die Stadt sei in vielerlei Hinsicht eine Bestie, so der künstlerische Leiter des Eröffnungsprogramms von »Kaunas 2022«, Chris Baldwin. Die Bestie sei eine Metapher, ein Vorwand, um miteinander zu reden. »Lasst uns erwachen, zusammentreffen, und dann werden wir am Ende des Jahres fragen: Wie wollen wir uns künftig definieren?«

ERÖFFNUNG Durch die Fenster von Galerien konnten die Zuschauer am Eröffnungsabend überall in der Stadt Musikern beim Spielen zusehen. Diese bereiten ein Werk vor, das von der Künstlerin Jenny Kagan geschrieben wird, deren Eltern das Ghetto in Kaunas überlebten. Es wird im Oktober am Ort des einstigen Ghettos in Vilijampole präsentiert.

Rund 1000 Veranstaltungen, darunter 40 Festivals und etwa 60 Ausstellungen, sollen ein Jahr lang Kaunas kulturell bereichern. Die Stadt an der Memel mit ihren heute 300.000 Einwohnern blickt auf eine Geschichte voller Brüche zurück, die für die Juden seit ihrer Ansiedlung im 15. Jahrhundert oft blutig verlief. Neben Vilnius, dem »Jerusalem des Nordens«, war auch Kaunas eine geistige Wiege des Judentums. Vor der Schoa lebten rund 40.000 Juden in Kaunas – fast ein Drittel der Bevölkerung. Heute gebe es nur noch 400 Mitglieder, sagt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Litauens, Faina Kukliansky.

Zwischen den Weltkriegen (1919–1940) war Kaunas provisorische Hauptstadt Litauens, zahlreiche Gebäude im Bauhaus-Stil künden bis heute davon. Fast 80 Prozent des Zentrums wurde von Juden gebaut, so die Koordinatorin des Memory Office, Justina Petrulionyte.

Es ist eine Gratwanderung von der Hauptstadt zur modernen Kulturhauptstadt. »From temporary to contemporary« lautet das Motto von »Kaunas 2022«.

Neben Vilnius war auch Kaunas eine geistige Wiege des Judentums

Im 20. Jahrhundert war die jüdische Geschichte der Stadt vor allem eine Geschichte des Mordens. Bereits kurz vor der Errichtung des Ghettos in Vilijampole (Slobodka genannt) im Juli 1941 wurden in Kaunas bei den Viljampole-Pogromen an nur zwei Tagen zwischen 600 und 1000 Juden umgebracht. Unter der Tarnbezeichnung »Fabrik Nr. 1005 B« errichteten die Nationalsozialisten 1941 am Stadtrand ein Konzentrationslager, in dem rund 50.000 Juden aus Litauen und ganz Europa sowie 10.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden.

Insgesamt kamen in Litauen während der Schoa fast 200.000 Juden ums Leben. Dies wäre ohne eine umfassende Kollaboration der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Am sogenannten VII. Fort erinnert ein Denkmal in Form eines steinernen Magen David an die Opfer. An jenem Ort wurden am 30. Juni 1941 rund 5000 Juden umgebracht.

Jüdisches Leiden und jüdischer Tod sind überall präsent in der Stadt – das jüdische Leben weitaus weniger: Von den einst 25 Synagogen in der Stadt ist die neobarocke Choralsynagoge von 1872 das einzige jüdische Gebetshaus in Kaunas, das noch erhalten ist.

BUCH Im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms entstand das populärwissenschaftliche Buch The Jews of Kaunas. Bisher habe es nur vereinzelte Artikel über die jüdische Geschichte der Stadt gegeben, sagt Kulturhauptstadt-Koordinatorin Petrulionyte. »Ein weiterer Grund, warum wir dieses Buch machen wollten, ist ein Dankeschön an die Vorfahren der Menschen, die hierher kommen, um nach ihren Wurzeln und Spuren ihrer Existenz zu suchen. Es ist uns wichtig, dass wir uns erinnern und verstehen, dass unsere Stadt von jüdischen Menschen geschaffen wurde und diese einen großen Einfluss auf die kulturelle Architektur, die Geschichte und das gesellschaftliche Leben hatten.«

Faina Kukliansky wundert sich über Sätze wie diese. Denn: »Was wir von Anfang an vermisst haben, ist die Einbeziehung der jüdischen Gemeinde«, sagt sie. Die Gemeindechefin heißt das Kulturhauptstadtprogramm grundsätzlich gut und möchte die Organisatoren nicht vor den Kopf stoßen. Aber es habe fünf Jahre gedauert, das Ganze zu organisieren – »ich denke, da war genug Zeit, um die jüdische Gemeinschaft mit einzubeziehen«, so Kukliansky.

»Kaunas ist vielleicht die einzige litauische Großstadt, die noch auf eine gründliche Aufarbeitung ihrer Geschichte wartet«, liest man im Vorwort von The Jews of Kaunas. Dies betreffe insbesondere die jüdische Gemeinschaft.

Das Buch zeichnet die jüdische Besiedelung der Stadt nach und greift Einzelschicksale prominenter jüdischer Bürger auf, wie das der Literaturwissenschaftlerin Leah Goldberg (1911–1970), die 1935 noch rechtzeitig nach Palästina emigrieren konnte. Sie übersetzte zahlreiche Werke europäischer Autoren ins Hebräische und gehörte später zu Israels führenden Intellektuellen.

Heute erinnert ein Wandbild in der Nähe ihres früheren Wohnhauses in Kaunas an die berühmte Dichterin. Neben einem Porträt von ihr ist auf der Mauer eines ihrer Gedichte auf Litauisch und Hebräisch zu lesen.

Ein anderes Wandbild zeigt Rosian Bagriansky und ihre Mutter Gerta. Bagriansky wurde 1935 in Kaunas geboren. Während des Zweiten Weltkriegs gruben Rosians Eltern nachts ein Loch unter dem Zaun des Ghettos, durch das sie das sechsjährige Kind ihrer ehemaligen Angestellten Brone Budreikaite übergaben. Dieses Wandbild wird von einem Gedicht eines der berühmtesten jüdischen Dichter Litauens, Hirsh Osherovich (1908–1994), begleitet.

Das Kulturhauptstadtjahr will an die berühmten jüdischen Intellektuellen der Stadt erinnern.

Das CityTelling-Festival im Herbst soll an das pulsierende jüdische Leben und an die vielen berühmten Söhne und Töchter der Stadt erinnern. Einer von ihnen ist der Philosoph Emmanuel Levinas (1906–1995). Vor Kurzem wurde an der Medizinischen Universität ein Zentrum eröffnet, das ihm gewidmet ist. Und im Herbst soll unter dem Titel »The Idea of Europe« ein Symposium stattfinden, das das Denken des Philosophen beleuchtet. »Wir hatten diesen wichtigen Intellektuellen, und wir wissen fast nichts über ihn«, so Petrulionyte.

In der Fußgängerzone in der Innenstadt erinnern zwei Lichtinstallationen an den japanischen Konsul Chiune Sugihara und an den niederländischen Honorarkonsul Jan Zwartendijk. Beide stellten nach der sowjetischen Besatzung Litauens Visa für Juden aus und retteten so Tausende.

Kaunas gedenkt aber nicht nur dieser Helden. Auch dem litauischen Offizier und Diplomaten Kazys Škirpa ist eine Gedenkplakette gewidmet, und eine Straße wurde nach ihm benannt. Škirpa gründete die Litauische Aktivistenfront (LAF), die das Land vom Sowjetsystem befreien, die litauischen Juden vertreiben und Litauen als faschistischen Nationalstaat etablieren wollte.

Konterkariert wird dies durch die große Einzelausstellung »That which we do not remember« von William Kentridge. Sie ist im Nationalen Mikalojus-Konstantinas-Ciurlionis-Kunstmuseum zu sehen.

Kentridges Großeltern waren litauische Juden, die rechtzeitig auswanderten. »Viele Juden aus Litauen hatten dieses Glück nicht«, so Kentridge, der in Südafrika lebt.

Mit seiner Einzelausstellung erinnert der Ausnahmekünstler an die Bedeutung des historischen Gedächtnisses. Im Auditorium des Museums präsentiert er eine Installation, die den Alten Jüdischen Friedhof von Kaunas und eine südafrikanische Landschaft zeigt. »Sowohl Südafrika als auch Litauen hatten eine sehr schmerzhafte und beschämende Geschichte«, so Kentridge.

Das jüdische Leben im heutigen Kaunas ist ein zartes Pflänzchen. Die meisten der wenigen Juden, die heute hier leben, sind Enkel von Schoa-Überlebenden. Daneben gibt es immer wieder auch einige israelische Studenten in der Stadt. Im Kulturhauptstadtjahr bleiben sie außen vor. Einen Dialog mit der jüdischen Gemeinschaft hat es im Vorfeld von »Kaunas 2022« nicht gegeben.

Angesichts dessen, dass man 2023 den 700. Jahrestag von Vilnius feiern werde, hat Gemeindechefin Faina Kukliansky ein ungutes Gefühl: »Einige Leute scheinen zu vergessen, dass Juden aktive Bürger beim Aufbau der Kultur dieses Landes waren.«

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