Argentinien

»Ich habe das erste Mal in meinem Berufsleben geweint«

Herr Leuco, Sie waren kurz nach dem 7. Oktober 2023 in Israel. Wie haben Sie das Land wahrgenommen?
Ich war der erste argentinische Journalist, der nach dem 7. Oktober in Israel eintraf. Als der Überfall geschah, sagten mir mein journalistischer Instinkt – ich bin seit 47 Jahren Journalist – und mein jüdisches Herz, dass dies nicht einfach ein weiterer Angriff war. Es war nicht das Übliche: Raketen, die ständig von verschiedenen Orten aus abgefeuert werden. Es war etwas Größeres. Ich arbeite für zwei Medien: Radio Mitre, den wichtigsten Radiosender Argentiniens, und für den Kabelfernsehsender LN+, der zur Tageszeitung »La Nación« gehört. Ich bat darum, über den Krieg berichten zu dürfen, obwohl die Kriegsberichterstattung normalerweise von jüngeren Reportern gemacht wird. Ein Kameramann und ich reisten schnell nach Madrid, wir schliefen eine Nacht auf dem Madrider Flughafen Barajas und stiegen dann in die letzte EL-AL-Maschine nach Tel Aviv. Wir kamen am 7. Oktober an und begannen sogleich mit der Besichtigung der verschiedenen Kibbuzim, bewacht von der israelischen Armee. Ich war schockiert von allem, was ich vorfand: dem Blut, dem Geruch des Schießpulvers, dem Geruch der verwesenden Leichen.

Sie waren auch im Kibbuz Nir Oz unweit des Gazastreifens. Was haben Sie dort gesehen?
In dem Kibbuz lebten 380 Menschen. Die Terroristen zerstörten ein Drittel der Häuser und setzten sie in Brand. Sie töteten etwa 40 Menschen und nahmen weitere 40 als Geiseln. In allen Kibbuzim in der Nähe des Gaza­streifens richteten sie wahre Massaker an. Nir Oz liegt nur einen Kilometer von Gaza entfernt. Wer in Nir Oz lebte, konnte den Streit von Ehepaaren auf der anderen Seite hören, so nah war man sich. Tatsächlich haben viele, die kamen, um zu morden, zu rauben und zu entführen, zuvor im Kibbuz gearbeitet. Viele der Kibbuz-Bewohner, die ihnen ihre Türen geöffnet hatten, wurden entführt und getötet von jenen, denen sie geholfen hatten. In Nir Oz erfuhr ich dann auch vom Schicksal der Familie Bibas …

… jener Familie, über deren Schicksal Sie einen Dokumentarfilm gedreht haben.
Die Geschichte der Familie hat mich aus vielen Gründen sehr schockiert. Innerhalb des Massakers, des größten Massenmordes an Juden seit dem Holocaust, hat mich ihr Schicksal besonders berührt, weil sechs Mitglieder der Familie Bibas Silberman aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurden. Von den sechs Personen überlebte nur eine – nach 580 Tagen Gefangenschaft und Leid. (Yarden Bibas wurde am 1. Februar 2025 im Rahmen eines Geiselabkommens freigelassen, Anm. d. Red.) Von den fünf auf grausame Weise Ermordeten waren vier Argentinier. Drei Generationen wurden massakriert: Der Großvater José Luis Silberman, der in Argentinien aufgewachsen ist, und seine Frau Margit Shneider, die Peruanerin war, wurden verbrannt. Ihr Haus wurde angesteckt, und es dauerte fast zwei Wochen, bis man herausfand, was mit ihnen geschehen war. Man dachte, sie seien nach Gaza entführt worden, auch wenn sie niemand gesehen hatte. Eine Gruppe von Anthropologen fand in der Asche schließlich genetisches Material, ein Stück von einem Zahn, ein Stück von einem Schädel. Daraus konnten sie rekonstruieren, dass die beiden in ihrem Haus verbrannt waren. Bei den anderen Toten handelt es sich um ihre Tochter Shiri (die auch die deutsche Staatsbürgerschaft hatte, Anm. d. Red.) und ihre beiden Enkelkinder, die kleinen rothaarigen Jungen Kfir und Ariel. Sie wurden nach Gaza gebracht.

Die Kinder waren die jüngsten Geiseln des 7. Oktober.
Die beiden waren ein neun Monate altes Baby und ein vierjähriger Junge, als sie entführt wurden. Nach Angaben der israelischen Regierung wurden sie kurz nach der Geiselnahme erwürgt und ihre Leichen geschändet. Schrecklich. Verschiedene Teile der ganzen Welt zeigten ihr antisemitisches Gesicht, aber andere Mitglieder der internationalen Gesellschaft drückten ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit dieser Familie aus, und Kfir und Ariel wurden zum Symbol der Proteste in verschiedenen Teilen der Welt. In Anlehnung an die Haarfarbe der Jungen wurden dabei orangefarbene Fahnen und Banner geschwenkt.

Wie kam es zu dem Film?
Die Geschichte der Familie hatte einen großen Einfluss auf mich. Als ich nach Argentinien zurückkehrte, wollte ich Israel mit Freiwilligenarbeit unterstützen. Aber da ich mit meinen Händen nicht mehr viel anstellen kann, außer zu schreiben, sagte ich mir: Dann mach das, was du kannst, nämlich Journalismus. Ich begann, Informationen über die Familie zu sammeln. Die Familie Bibas Silberman hat uns vertraut. Der Film wurde von den Angehörigen genehmigt. Sie begannen, mir persönliches Material von Feiern, von Hochzeiten, von intimen familiären Momenten zu geben. Ich erkannte, dass das Material von solcher Bedeutung und Wirkung war, dass ein journalistischer Bericht für Radio und Fernsehen nicht ausreichen würde. Also machte ich mich daran, einen Dokumentarfilm zu drehen. Alle, die daran mitgearbeitet haben, taten es ohne Bezahlung.

Sie sind mehrmals nach Israel gereist, um die Familie zu interviewen?
Wir haben Interviews mit den Überlebenden geführt: Shiris Schwester, Shiris Cousine, Yardens Schwester … Jede kommt zu Wort und erzählt, wie sich alles zugetragen hat. Und natürlich bin ich zu beiden Häusern gegangen. Ich ging zu Josés Haus, das niedergebrannt war. Ich wurde dabei von der Tochter Anna begleitet, die überlebt hat. Ich bat um Erlaubnis, mir ein Erinnerungsstück mitnehmen zu dürfen. Ich fand ein Stück von einem Teller mit diesen sehr farbenfrohen israelischen Mustern. Wir besuchten auch das Haus, in dem die beiden kleinen rothaarigen Jungen lebten, die auf grausame Weise ermordet wurden.

Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist, eine so schreckliche Geschichte am Beispiel einer einzigen Familie zu erzählen.
Es ist sehr schwierig, über ein gigantisches Massaker in seiner Gesamtheit zu berichten. Es wurden mehr als 1200 Menschen ermordet und 250 entführt. Es gibt diesen Satz von Leo Tolstoi: »Male dein Dorf, und du malst die Welt.« Nun, wenn man die Geschichte dieser einen Familie »malt«, erhält man ein Bild davon, worum es bei dem brutalen Angriff ging. Wir verwenden in der Dokumentation viele Aufnahmen, die von den Terroristen selbst gemacht wurden. Sie hatten GoPro-Kameras, mit denen sie ihre eigene Grausamkeit gefilmt haben. Ich habe mit Ärzten und Gerichtsmedizinern gesprochen, die Verwundete und Tote von Terroranschlägen behandelt haben, und sie haben mir gesagt, dass sie noch nie eine solche Grausamkeit gesehen haben: Menschen, die verbrannt, Frauen, die vergewaltigt, Kinder, die vor den Augen ihrer Eltern ermordet, Eltern, die vor den Augen ihrer Kinder getötet wurden, zerstückelte Leichen – sie haben eine solche Grausamkeit an den Tag gelegt!

Der Dialog eines sehr jungen Terroristen mit seinen Eltern ist berüchtigt und wird auch im Film gezeigt. Er sagt zu seiner Mutter und seinem Vater: »Gott segne mich, ich habe zehn Juden mit meinen eigenen Händen getötet.«
Um den Angriff zu rekonstruieren, haben wir Aufnahmen der Terroristen selbst verwendet. Hinzu kamen unsere Anwesenheit am Tatort, das Herumgehen, die Nachforschungen und die Interviews mit den Überlebenden und der Familie. Und in Argentinien haben wir uns an einige bekannte Journalisten und Schauspieler gewandt, sowohl jüdische als auch nichtjüdische, die in dem Film zu Wort kommen.

Wie haben sich diese Erfahrung vor Ort und die Arbeit an dem Dokumentarfilm auf Sie persönlich ausgewirkt?
Ich bin kein Mensch, der leicht weint, aber ich habe zum ersten Mal in meinem Berufsleben geweint, und zwar, als ich einen anderen Argentinier interviewte. Das ist nicht im Film zu sehen. Seine beiden Kinder wurden nach Gaza verschleppt. Einer der Söhne ist zurück, und der andere ist immer noch dort. Zum ersten Mal in einem Interview war ich derart schockiert, dass ich anfing zu weinen, weil ich bei dem traurigen, herzzerreißenden Blick des Mannes an meinen eigenen Sohn denken musste.

Und beruflich?
Ich bin seit 47 Jahren als Journalist in der argentinischen Politik tätig, aber ich würde sagen, dass die Erfahrung in Israel meine beruflichen Prioritäten verändert hat. Und menschlich gesehen, habe ich beschlossen, so viel wie möglich dazu beizutragen, die Wahrheit bekannt zu machen, in dieser medialen Auseinandersetzung. Denn Israel ist weit von dem Kommunikationsniveau entfernt, das diejenigen haben, die die Hamas unterstützen oder »Free Palestine« rufen.

Viele Geiseln sind immer noch in den Händen der Hamas, der Konflikt geht weiter … Was bleibt?
Zum Zeitpunkt, an dem wir sprechen, befinden sich noch etwa 50 Geiseln in der Gewalt der Hamas, von denen 30 tot und 20 kurz davor sind zu sterben. Von diesen 20, die sterben könnten, sind vier ebenfalls Argentinier. Viele der Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens wie Nir Oz wurden von Lateinamerikanern und idealistischen Argentiniern gegründet, die in ihrer Jugend das Ziel hatten, Israel aufzubauen, aber mit Sympathie für die Palästinenser und in dem Versuch, gemeinsam mit ihnen Frieden zu schaffen. Die Situation ist kompliziert, denn Israel ist sehr gespalten, es gibt viel internen Streit. Alle Geiseln zu befreien, ist natürlich das Hauptziel. Es ist eine komplexe Situation, bei der man nicht weiß, wie sie enden wird. Der Dokumentarfilm hat einen humanistischen Blick; alles ist echt, alle Bilder, alle Interviews. Seine Verbreitung kann ein Sandkorn sein, ein Beitrag dazu, die Wahrheit über diese rea­len Kriegsverbrechen, die begangen wurden, bekannt zu machen, damit sie nicht verschleiert werden.

Mit dem argentinischen Journalisten und Filmemacher sprach Andreas Knobloch. Der Film hat bisher keinen internationalen Verleih.

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