Slowakei

Heimat im Exil

In dem Moment, als Rabbi Michail Kapustin klar wurde, dass sich sein Leben wieder einmal von Grund auf ändern würde, war er unterwegs. So wie er es häufig tat, besuchte er eine der kleinen Gemeinden auf der Krim, als sich auf der Straße spontane Aufmärsche bildeten, Demonstrationen für Russland und andere für die Ukraine.

Michail Kapustin griff zum Telefon: »Irgendetwas Schlimmes ist passiert«, sagte er zu seiner Frau, »geh’ heute lieber nicht in die Stadt – und lass die Namen der Kinder in deinen Pass eintragen!« Am nächsten Tag wurde der Nationalrat besetzt, und fremde Truppen marschierten auf der Krim ein.

spannung Vier Jahre liegt jener Februartag auf der ukrainischen Halbinsel inzwischen zu­rück, aber Michail Kapustin ist immer noch die Spannung anzumerken, wenn er davon erzählt: Langsam redet er, jedes Wort wägend, die Sätze klar und präzise.

Längst ist er angekommen in einer neuen Welt, auf der nächsten Station seiner Wanderschaft als Rabbiner: In Bratislava wirkt er jetzt, der slowakischen Hauptstadt. Ein Café schlug er für das Treffen vor, einen studentischen Laden im Souterrain eines bürgerlichen Mietshauses nahe der Burg, aber als er eintrifft, winkt er lieber zum Weitergehen: Es ist zu laut im Café, auf einer Leinwand läuft eine Eishockeypartie – »ausgerechnet Russland gegen die Slowakei«, ruft er und zeigt auf die eingefleischten Fans, die ihre Stühle nah an die Leinwand gerückt haben. Jetzt sitzt er in der ruhigen Lobby eines Luxushotels ein paar Straßen entfernt.

Politik Wenn Michail Kapustin durch die Straßen geht, ist er nicht zu übersehen. Schwarz ist die sportliche Jacke des 37-Jährigen, schwarz seine Mütze, schwarz der kurze Bart, den er scharf konturiert zurechtstutzt. Sein Gang zeugt von Selbstbewusstsein, sein Lächeln ist offen.

»Ich habe nie Wahlergebnisse kommentiert oder öffentlich über Politik gesprochen, weil ich finde, dass mir das nicht zusteht – Politik und Religion müssen getrennt sein, davon bin ich fest überzeugt. Aber als die russische Armee kam, war das etwas anderes als Politik. Ich war und bin Bürger der Ukraine, und was da geschah, fand ich nicht richtig«, sagt er.

Also setzte er sich an den Schreibtisch, Michail Kapustin, einer von zwei Rabbinern auf der Krim, und verfasste einen offenen Brief, in dem er den Einmarsch verurteilte. Was danach einsetzte, hat er bis heute nicht verwunden: Beschimpfungen und Drohungen trafen bei ihm ein, selbst von einstigen Weggefährten; dazu klingelte ununterbrochen das Telefon, weil Journalisten aus aller Welt auf ihn aufmerksam wurden. Dutzende Interviews gab er, selbst Korrespondenten aus Japan befragten ihn.

livesendung Einmal saß er im Studio eines örtlichen Fernsehsenders, 30 Minuten Livesendung waren geplant. »Ich war davor schon öfters live im Fernsehen, aber das war das erste Mal, dass ich merkte: Auf diese Fragen sollte ich lieber nicht antworten. Ich befürchtete, dass es gegen uns Juden insgesamt verwendet werden würde. Das ist für einen Rabbiner das Schwierigste – nicht sagen zu können, was er denkt.«

Es war der Moment, in dem sich Michail Kapustin entschied, die Krim zu verlassen. Ein paar Tage vorher hatte er sich mit seiner Frau, einer Anwältin, noch Gedanken darüber gemacht, wo ihre beiden kleinen Kinder eines Tages zur Schule gehen werden, aber über Nacht waren alle diese Überlegungen hinfällig.

Für Kapustin war es die zweite Flucht in seinem Leben. Beim ersten Mal war er noch ein Kind, mit seinen Eltern lebte er in Georgien. Vor dem dortigen Bürgerkrieg floh die Familie auf die Krim. Seine Eltern waren nicht religiös, Michail wusste wenig über das Judentum.

synagoge Zehn Jahre alt muss er gewesen sein, er­innert er sich heute, als er zum ersten Mal in die Synagoge ging. Viel verstanden, sagt er und schmunzelt, habe er damals nicht. Die Berufung zum religiösen Studium kam erst später – in London studierte er, eine Weile war er in Israel, seine ersten beruflichen Stationen absolvierte er in jüdischen Gemeinden in England.

»Mir war aber von vornherein klar, dass ich in der Ukraine arbeiten will«, sagt er im Rückblick. »Im Juli 2005 war ich fertig mit dem Studium, im August fing ich gleich in der Ukraine an.«

Zunächst arbeitete er in Charkiw, seit 2007 dann auf der Krim. In Simferopol hatte er seine Gemeinde, der Hauptstadt der Halbinsel. Keine zehn Jahre sollte das Glück dauern, das er dort in seiner Heimatgemeinde empfand.

»Als wir aus Georgien flüchteten, war ich elf Jahre alt, und die Entscheidung zur Flucht trafen meine Eltern. Jetzt auf der Krim waren meine Frau und ich diejenigen, die für unsere Kinder entscheiden mussten«, sagt Michail Kapustin. Diesmal floh er nach Kiew, in die ukrainische Hauptstadt, die in sicherem Abstand zur Krim liegt.

propaganda Dort bekam er mit, dass seine Flucht zum Politikum wurde: Russia Today, der Kreml-nahe Propagandasender, behauptete, der Rabbi sei aus Angst vor ukrainischen Nationalisten geflohen. Im Internet bekam der erlogene Beitrag so viele positive Kommentare und so viel Unterstützung, dass Kapustin die Notbremse zog: »Ein paar Monate lang sprach ich mit keinem Journalisten, und auch heute noch ist es für mich vor einem Interview die wichtigste Bedingung, dass ich alle Zitate autorisieren kann. Ich möchte nicht, dass meine Aussagen anders interpretiert werden, als ich sie gemeint habe.«

Mit einigen alten Freunden von der Krim ist Michail Kapustin heute noch im Kontakt. Was er aus der Ferne beobachtet: Das jüdische Leben habe sich verändert – nicht nur, weil er und auch sein orthodoxer Kollege nicht mehr vor Ort sind, sondern allein schon strukturell. »Die Krim ist faktisch russisch, und auch die jüdische Gemeinde hat ihre verschiedenen Dachorganisationen inzwischen in Russland«, sagt er.

Und wie gehen die Juden damit um? Rabbi Kapustin denkt einen Moment nach. »Die meisten Juden auf der Krim sind assimiliert, sie sind ein Teil der Mehrheit. Und so wie die meisten Menschen einfach gewartet haben, was passiert, war es auch unter den Juden.« Manche gebe es, die pro-ukrainisch fühlten, andere seien pro-russisch eingestellt – »nur dass diejenigen nicht darüber sprechen, die eine andere Meinung haben, als in den russischen Medien verbreitet wird«.

freunde Auch unter seinen engen Freunden, sagt Kapustin, gebe es Vertreter beider Lager. Er selbst, schiebt er dann hinterher, möchte sich in den Konflikt nicht hineinziehen lassen. »Es ist nicht so wie vor 100 Jahren, als ein chassidischer Rabbi in Russland zu seiner Gemeinde sagen konnte, dass es Zeit sei für den Aufbruch, und am nächsten Tag sind alle mit gepackten Koffern nach Amerika ausgewandert. Ich gehöre nicht zu den Rabbinern, die das so machen; und so eine Autorität will ich auch nicht haben.«

Es war 2014 beim Purimfest, als Michail Kapustin seiner Gemeinde die Entscheidung mitteilte. An seine Worte erinnert er sich bis heute ganz genau: »Was auf der Krim geschieht, gefällt mir nicht – nicht mir und auch nicht meiner Familie. Deshalb sehe ich meine Zukunft nicht auf der Krim. Ich weiß nicht, wie ich hier weiterarbeiten soll. Das sage ich, weil ich zu mir selbst und zu meiner Gemeinde ehrlich sein will.«

Als die Familie in Kiew ankam, wusste Kapustin noch nicht, wie es weitergeht. Die World Union for Progressive Judaism, zu der Kapustin gehört, unterstützte ihn weiter, aber einen Ausweg sah auch sie nicht. Es war dann ein früherer Wegbegleiter, ein Rabbiner in London, der ihn eines Tages anrief und ihm davon erzählte, dass in der Slowakei ein nicht-orthodoxer Rabbi gesucht werde, und ob er sich das nicht vorstellen könne.

familie »Ich war noch nie in der Slowakei, über das Land wusste ich nicht viel«, sagt Kapustin – »und als ich mit meiner Familie hier war und sie mir die Aufgabe anboten, sagte ich mit Freude zu.«

Die Situation in Bratislava ist nicht nur für ihn neu, sondern auch für die jüdische Gemeinde. Seit vielen Jahrzehnten gab es in der Slowakei keinen liberalen Rabbiner mehr, die letzten wirkten hier vor der Schoa. Entsprechend gibt es auch keine liberale und orthodoxe Gemeinde in Bratislava, sondern eine Einheitsgemeinde. »Die Mitglieder können auswählen, in welchen Gottesdienst sie gehen – Hauptsache, sie kommen überhaupt.«

Michail Kapustin lebt spürbar auf, wenn er über die Gegenwart erzählt. Dass da ein neuer, ein junger Rabbi auftaucht, bringt merklich Schwung in die Gemeinde. Mehr junge Mitglieder sind jetzt aktiv, es stehen Hochzeiten an und Batmizwa-Feiern.

gemeinden Kapustin reist regelmäßig durch die Slowakei, er besucht auch die abgelegenen Gemeinden, die schon längst keinen eigenen Rabbiner mehr haben. Er hält Vorlesungen an der Universität und zieht im Namen des interreligiösen Dialogs durch die Schulen – zusammen mit einem Imam, einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer. Für die Slowakei, die mit religiöser und ethnischer Vielfalt nicht viel Erfahrung hat, ist das eine kleine Sensation.

Seine beiden Kinder, die im Kindergartenalter sind, gehen beim orthodoxen Kollegen in den Religionsunterricht. »Mein Wunsch ist es«, sagt Kapustin, »dass die Slowakei für sie zur Heimat wird.«

Er selbst fühle sich in Bratislava längst heimisch, sagt Kapustin zum Abschied. Nur manchmal kommt seine Liebe zur Ukraine noch durch – meistens dann, wenn Dynamo Kiew spielt. Dem Fußballverein drückt er seit Kindheitstagen die Daumen. »Und glücklicherweise gibt es hier in Bratislava Kneipen, in denen die Spiele übertragen werden. Da verabrede ich mich dann mit Freunden.«

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