Ukraine

Hauptsache Demokrat

Am Sonntag wird abgestimmt: Wer den Wahlplakaten glaubt, muss sich um die Zukunft des Landes keine Sorgen mehr machen. Foto: Reuters

Die Premierministerin mit dem geflochtenen Zopf geht auf Tuchfühlung mit der jüdischen Gemeinde – per Wahlplakat: Rund um die Brodsky-Synagoge im Kiewer Zentrum lächelt Julia Timoschenko von weißen Transparenten, die quer über die vereisten Straßen gespannt sind. »Die Ukraine bewegt sich. Die Ukraine – das bist du!«, lautet der Slogan, mit dem die einst engste Weggefährtin von Präsident Juschtschenko nun selbst ins höchste Staatsamt drängt.

An diesem Sonntag wird in dem osteuropäischen Land ein neuer Präsident gewählt – und die derzeitige Ministerpräsidentin gilt als heiße Favoritin. Auch bei Immobilienmakler Joel, der gerade unter dem Transparent hindurch zum Schabbatgottesdienst eilt. »Julia ist gut fürs Business«, sagt er, »ihr vertraut man im Westen eher als anderen Politikern.«

Nicht jeder legt sich so eindeutig fest. »Wir sind für alle, die für Demokratie eintreten«, orakelt Itzhak, der vor der Synagoge hektisch noch die letzten Telefonate vor dem Feiertag erledigt. Was die Juden von den Kandidaten halten? Was für eine Frage! »Die Wahl ist geheim. Jeder entscheidet für sich«, raunzt Itzhak.
Nur einer liegt in den Umfragen noch vor der eisernen Lady mit dem ausgeprägten Machtinstinkt: Timoschenkos schärfster Konkurrent, Viktor Janukowitsch von der Partei der Regionen. Der mutmaßliche Wahlfälscher von 2004, gegen den die Orangene Revolution losbrach, hat das Verliererimage abgestreift. Sein Konterfei strahlt in einer Nebenstraße der Synagoge aus einem eisblauen Reklamekasten. Janukowitsch verspricht »Die Ukraine für die Menschen«. Vor allem im Osten und Süden des Landes hat der 59-Jährige seine Hochburgen.

stechen Viktor oder Julia – auf diese Wahl scheint es hinauszulaufen, wenn Anfang Februar im zweiten Durchgang die einfache Mehrheit zum Sieg reicht. Amtsinhaber Juschtschenko dagegen bekommt die Enttäuschung und den Frust seiner Landsleute zu spüren. Seine Chancen, wiedergewählt zu werden, sind gleich null.

Die 18-jährigen Brüder Josef und Schmuel, die aus der Jeschiwa kommen, haben sich noch nicht entschieden, ob sie überhaupt wählen gehen. »Die Politiker betrügen doch alle«, meint Josef verächtlich. Schmuel nickt.

»Egal wer gewinnt – ich fürchte, es wird weniger Freiheit geben«, sagt Anja Lenchovska vom »Kongress für nationale Minderheiten«. Die junge jüdische Frau leitet die Bürgerinitiative, die Toleranzseminare für Jugendliche in der ganzen Ukraine organisiert. Sowohl Timoschenko als auch Janukowitsch führen straff organisierte Parteiapparate. Bei beiden sieht Lenchovska autoritäre Tendenzen. »Es fängt im Kleinen an«, sagt Anja. Im vergangenen Jahr verbot die ukrainische Moralkommission die Ausstrahlung des »Brüno«-Films des britischen Komikers Sacha Baron Cohen wegen anzüglicher Szenen. »Ich hoffe, dass wir keine autoritäre Gesellschaft wie in Russland werden«, meint die Aktivistin nachdenklich.

Wie viele ihrer Landsleute hatte Anja große Hoffnungen in die Orangene Revolution gesetzt – und ist jetzt enttäuscht, weil Präsident Juschtschenko die meisten seiner Versprechen nicht eingelöst hat. Immerhin wachse die Zivilgesellschaft. Juden müssten sich glücklicherweise nicht bedroht fühlen, meint die junge Frau. »In der Ukraine gibt es mehr Ausländerfeindlichkeit als Antisemitismus. Vor allem Flüchtlinge und Migranten sind davon betroffen.«

rechts aussen Sorgen macht ihr, dass unter den 18 Präsidentschaftskandidaten mit Oleh Tjanybok mindestens ein gefährlicher Rechtspopulist sei. Seine »Swoboda«-Bewegung organisiert Märsche gegen illegale Migration und veranstaltet auch andere ultrachauvinistische Aktionen. Ein anderer Splitterkandidat, der Ushgoroder Bürgermeister Serhij Ratuschnjak, rief Ende November sogar die Knesset in Jerusalem auf den Plan. Ratuschnjak hatte den neoliberalen Präsidentschaftskandidaten Arsenij Jazenjuk als »frechen Juden« im Dienste der Oligarchen bezeichnet und einen von Jazenjuks Wahlkampfhelfern tätlich angegriffen.

Man könne nicht schweigen, wenn mit Ratuschnjak ein Holocaustleugner in der Ukraine das höchste Staatsamt anstrebe, der bereits mit Drohungen an die Adresse der jüdischen Gemeinde aufgefallen sei, schrieben daraufhin 20 Abgeordnete mehrerer Knesset-Fraktionen an Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko.

Die Einmischung von außen kam in der ukrainischen jüdischen Gemeinschaft unterschiedlich an. Josef Zissels von der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden ist überzeugt: »Es gibt keine nen- nenswerte radikale Wählerschaft in der Ukraine.« Rabbiner Alexander Duchowny von der Vereinigung der progressiven jüdischen Gemeinden der Ukraine fand den Protestbrief aus Israel dagegen richtig: »Was Ratuschnjak sagt, ist nicht nur gefährlich für Juden, es ist gefährlich für alle Menschen.«

Die Aussicht auf eine Präsidentin Timoschenko oder einen Präsidenten Janukowitsch sorgen bei den jüdischen Offiziellen – ähnlich wie in der Bevölkerung – für wenig Euphorie. Zissels gibt sich diplomatisch: »Ich sehe keinen idealen Kandidaten, nicht mal einen optimalen.« Umso wichtiger sei, dass das Land Kurs halte: »In den letzten fünf Jahren ist die Ukraine auf dem demokratischen Weg weiter vorangekommen als in den 20 Jahren davor zusammen.« Und auch der progressive Rabbiner Alexander Duchowny hofft, dass ein neuer Präsident die demokratischen Veränderungen vorantreibt. »Wir sind im Prozess, die Demokratie aufzubauen. Ich wünsche mir, dass der Wohlstand wächst, dass religiöse Freiheit, Medien- und Meinungsfreiheit gewahrt bleiben.«

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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