Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens: Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

Die Philosophin Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 an einem Herzinfarkt. Foto: IMAGO/Bridgeman Images

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Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens: Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren ihr Lebensthema. Sie sah ihre Aufgabe als politische Denkerin darin, die Welt und die Menschen zu verstehen

von Jürgen Prause  18.11.2025 15:05 Uhr

Wer von der »Banalität des Bösen« spricht, zitiert damit - oft ohne es zu wissen - die große Denkerin Hannah Arendt (1906-1975). Die jüdische Intellektuelle war eine einflussreiche Autorin, scharfsinnige Beobachterin und streitbare Zeitgenossin. Auch 50 Jahre nach ihrem Tod ist sie im öffentlichen Diskurs präsent, ihre Schriften werden nach wie vor gelesen und zitiert. Am 4. Dezember 1975 starb sie im Alter von 69 Jahren in New York an einem Herzinfarkt.

Als junge Frau musste sie 1933 vor den Nationalsozialisten flüchten und ihre deutsche Heimat verlassen. Die Auseinandersetzung mit dem Wesen der totalitären Diktatur ließ sie nicht mehr los. Sie war überzeugt: »Der Totalitarismus vergiftet die Gesellschaft bis ins Mark.« Im amerikanischen Exil wurde sie zu einer der wichtigsten politischen Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts, dessen politische Umwälzungen ihren Lebensweg prägten. Bis zur Einbürgerung in den USA 1951 war sie staatenlos.

»Ein Leben zwischen Politik und Philosophie«

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und in Königsberg aufgewachsen, führte »ein Leben zwischen Politik und Philosophie«, wie Annette Vowinckel schreibt. Die Historikerin sieht in Arendt eine »Kronzeugin für das ganze 20. Jahrhundert«. Schon als Schülerin interessierte diese sich für Philosophie. Mit 14 Jahren las sie Werke von Immanuel Kant aus dem elterlichen Bücherschrank.

Nach dem Abitur nahm sie in Marburg das Studium der Philosophie, evangelischen Theologie und altgriechischen Philologie auf. Sie war 18, als sie eine kurze Liebesbeziehung mit ihrem 17 Jahre älteren Professor Martin Heidegger (1889-1976) einging. In Heidelberg wurde sie später bei Karl Jaspers (1883-1969) mit einer Arbeit über den »Liebesbegriff bei Augustin« promoviert.

Dass sie aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus kam, spielte in ihrer Kindheit kaum eine Rolle. »Das Wort ‚Jude‘ ist bei uns nie gefallen, als ich ein kleines Kind war«, berichtete Arendt 1964 in einem Interview. Der Vater war früh gestorben, die Mutter sei »gänzlich areligiös« gewesen. Über ihre jüdische Herkunft sei sie erst durch antisemitische Bemerkungen von anderen Kindern auf der Straße »aufgeklärt« worden.

Wie ein Blick in den Abgrund

Von der massenhaften, fabrikmäßigen Ermordung der Juden in Auschwitz erfuhr die von den Nationalsozialisten ausgebürgerte Emigrantin 1943 in New York, wo sie seit 1941 mit ihrem zweiten Ehemann lebte, dem Philosophiedozenten Heinrich Blücher. Sie reagierte zunächst ungläubig: »Das war wirklich, als ob sich der Abgrund öffnet.«

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Arendt suchte nach wissenschaftlichen Erklärungen für die auf Ideologie und Terror basierenden totalitären Herrschaftssysteme. 1951 erschien in den USA ihr Buch »Origins of Totalitarianism«, das sie international bekannt machte. Die deutsche Ausgabe kam 1955 mit dem Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« heraus.

Sie fasste unter dem Begriff »Totalitarismus« das NS-Regime und den Stalinismus in der Sowjetunion zusammen. Die »konsequenteste Institution totaler Herrschaft« sah sie in den NS-Konzentrationslagern - den »Vernichtungsfabriken«, in denen Millionen Menschen ermordet wurden.

Eichmann: Mittelmaß und Gedankenlosigkeit

Im Jahr 1961 erhielt Arendt Gelegenheit, einen der Hauptverantwortlichen für die Organisation des Holocaust aus der Nähe zu erleben. Der in Argentinien untergetauchte ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann war dort vom israelischen Geheimdienst entführt worden und wurde in Jerusalem vor Gericht gestellt. Der Schreibtischtäter sei einer der »größten Verbrecher seiner Zeit«, zugleich aber von Mittelmäßigkeit und Gedankenlosigkeit geprägt, schrieb Arendt in ihrem Prozessbericht.

Mit ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« (1963), dessen Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« zum geflügelten Wort wurde, löste sie eine Kontroverse aus. Kritiker sahen darin eine Verharmlosung des NS-Täters, was aber nicht der Intention der Autorin entsprach.

In den USA konnte Arendt die akademische Karriere nachholen, die ihr in Nazi-Deutschland verwehrt worden war. Sie lehrte als Professorin unter anderem an Universitäten in Chicago und New York.

Mehrfach besuchte sie nach dem Zweiten Weltkrieg auch wieder Deutschland. 1959 nahm sie in Hamburg den Lessing-Preis entgegen. In ihrer Dankesrede sprach sie über die verbreitete Neigung der Deutschen, »so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben«.

»Denken ohne Geländer«

Auch wenn Arendt während des Kalten Krieges das Etikett der Antikommunistin anhaftete, war sie eine unabhängige Denkerin. Sie fühlte sich keinem Lager und keiner Schule zugehörig. »Denken ohne Geländer« nannte sie das einmal. Manche ihrer Analysen wirken erstaunlich aktuell und werden immer wieder von Experten zitiert, »als seien ihre Überlegungen für unsere Gegenwart geschrieben«, wie der Ideenhistoriker Thomas Meyer anmerkt.

Meyer würdigt die Ausnahmestellung der politischen Theoretikerin und Publizistin im Wissenschaftsbetrieb: »Hannah Arendt ist bis heute die einzige Frau, die neben unzähligen Männern weltweit als Referenz in der Politikwissenschaft und politischen Philosophie anerkannt wird.« Arendt selbst sagte dazu 1964 in einem TV-Interview mit dem Journalisten Günter Gaus: »Sehen Sie, ich habe einfach gemacht, was ich gern machen wollte.«

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