Österreich

Gratis in Graz

»Hier will ich einige Tage bleiben und ruhen; die Stadt und die Leute gefallen mir. (…) Das Ganze hat hier überall einen Anblick von Bonhommie und Wohlhabenheit, der sehr behaglich ist. (…) Graz ist eine der schönsten großen Gegenden, die ich bis jetzt gesehen habe; die Berge rund umher geben die herrlichsten Aussichten.«

Dies schrieb der sächsische Reiseschriftsteller und Dichter Johann Gottfried Seume 1802 über Graz, die Hauptstadt der Steiermark.

SCHWARZENEGGER In Deutschland weiß man kaum etwas über die zweitgrößte Stadt Österreichs. Manchem ist vielleicht bekannt, dass der amerikanische Schauspieler und ehemalige Bodybuilder Arnold Schwarzenegger in Graz zur Schule ging und beim Militär war – doch das war es auch schon. Rund 150 Kilometer südwestlich von Wien gelegen, steht Graz immer ein wenig im Schatten der Hauptstadt.

Darunter leidet auch die örtliche jüdische Gemeinde. Sie ist zwar nach der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien mit ihren rund 7500 Mitgliedern die zweitgrößte im Land – doch der Unterschied ist beträchtlich: In Graz gibt es gerade einmal 150 Juden. Um eine so kleine Gemeinde am Leben zu erhalten, muss man aktiv werden.

Das sagte sich Gemeindepräsident Elie Rosen (50) und hatte eine Idee. Man müsse junge Menschen anlocken, dachte er sich – am besten Studierende. Denn Graz ist eine Hochschulstadt, rund ein Fünftel der Einwohner sind Studenten. Es gibt vier Universitäten, zwei pädagogische Hochschulen, ein Konservatorium und zwei Fachhochschulen – man könne in Graz so gut wie alles studieren, schwärmt Rosen: von Kunst und Musik über Jura, Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften bis hin zu Medizin und Geisteswissenschaften. Für Studenten aus Deutschland ist Österreich besonders attraktiv, denn die meisten Studiengänge sind zulassungsfrei, einen Numerus clausus gibt es nicht.

initiative Damit sich mehr jüdische Studierende für Graz entscheiden, hat Rosen eine Initiative gestartet: »Wir stellen ihnen mindestens drei Jahre lang kostenlos Wohnraum zur Verfügung und richten im Gemeindehaus für sie einen Studierraum mit entsprechender Infrastruktur ein.«

Die Gemeinde verfügt über mehrere Immobilien, einige Häuser stehen in unmittelbarer Nähe zur Synagoge und dem Gemeindezentrum. »Dort werden zurzeit etliche Wohnungen instandgesetzt, es entstehen Studenten-WGs, die wir möbliert zur Verfügung stellen.«

Mit fünf Studierenden wolle man im Herbst beginnen – »sollte die Nachfrage größer sein, können wir rasch nachjustieren«, sagt Rosen.
Die Studenten sollen die Gemeinde bereichern. Damit sie integriert werden können, sei es wichtig, dass sie mindestens drei Jahre bleiben.
Schon jetzt lassen sich immer wieder Studenten von außerhalb in der Gemeinde blicken, doch blieben sie in der Regel nur kurz, zum Beispiel für ein Erasmus-Semester, sagt Rosen.

»So war die Überlegung: Wie schaffen wir Anreize, dass Studierende über längere Zeit am Gemeindeleben teilnehmen? Denn wir wollen die Aktivität der Gemeinde absichern, auch im Synagogalbereich.«

Nahe der Synagoge stehen Studenten-WGs möbliert zur Verfügung.

Die Grazer Synagoge, ein imposanter Kuppelbau mit viel Glas, wurde vor 20 Jahren auf Initiative der Stadt am David-Herzog-Platz errichtet – da, wo sich bis zur Pogromnacht 1938 die alte Synagoge befand. Platz ist dort für viele Beter.

ZUWANDERUNG Doch damit die kleinen jüdischen Gemeinden in Österreich wachsen, bedarf es mehr als den Zuzug von Studierenden. »Wir werden langfristig nicht ohne Zuwanderung auskommen«, sagt Rosen. Wenn die Regierung jüdisches Leben weiter fördern will, werde man mit Migration nachhelfen müssen. »Wir kleinen Gemeinden werden vermutlich nur dann überleben, wenn wir Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion bekommen. Man wird Sonderquoten schaffen müssen.«

Die Grazer Gemeinde ist zwar klein, doch beschreibt Rosen sie als lebendig und als »buntes Gemisch«. Nur wenige Mitglieder stammen aus Familien, die schon vor der Schoa in der Steiermark lebten. Die meisten sind zugezogen: aus Israel, dem Iran, der ehemaligen Sowjetunion, ja, sogar aus Äthiopien.

Zum »bunten Gemisch« trägt auch bei, dass manche Gemeindemitglieder im benachbarten Ungarn leben. All dies führe dazu, dass es in der Gemeinde eine hohe Akzeptanz für andere kulturelle Hintergründe gibt. Studenten, die neu in die Gemeinde kommen, werden sich daher wohl nicht als »die Fremden« fühlen.

spektrum Was es jungen Erwachsenen außerdem erleichtern könnte, gut Fuß zu fassen, ist der Umstand, dass die Grazer Gemeinde nicht überaltert ist. »Die Generation 80 plus ist bei uns relativ schwach vertreten«, sagt Elie Rosen. »Das Spektrum der Gemeinde erstreckt sich vor allem vom Teenager- bis zum frühen Rentenalter.«

Orthodoxe Mitglieder gebe es nicht, »die meisten sind allenfalls traditionell«. Der Bedarf an rabbinischer Beratung sei »relativ gering«, so Rosen. Es gibt einen Gemeindekantor, dies genüge im Wesentlichen – die Dienste des Wiener Rabbiners Schlomo Hofmeister, der offiziell auch steirischer Landesrabbiner ist, benötigt man kaum.

Zur Gemeinde in der Hauptstadt stehen die Grazer Juden traditionell in engem Kontakt. Gemeinsam mit den Gemeinden in anderen Städten im Land haben sie sich zur Israelitischen Religionsgesellschaft Österreich (IRG) zusammengeschlossen. Rosen ist deren Vizepräsident und als Jurist und Betriebswirt für die Finanzen zuständig.

AUSTAUSCH Über die Landesgrenzen hinaus pflegen die Grazer Juden vor allem Kontakte zu den Gemeinden in Zagreb und Triest. Nach der Pandemie wolle man vor allem den kulturellen Austausch fördern, sagt Rosen. So soll ein touristischer Pfad errichtet werden, der jüdische Orte zwischen den drei Städten miteinander verbindet.

Überhaupt setzen die Grazer Juden stark auf Kultur. So wird zurzeit der Bau eines neuen jüdischen Kulturzentrums geplant. »Knapp 600 Quadratmeter Freifläche haben wir geschaffen«, sagt Rosen, »derzeit laufen die Kostenschätzungen mit der Stadt.« Der Kulturbetrieb sei ein wesentliches Element der Gemeinde nach außen. Doch wolle man auf keinen Fall »Folklore anbieten, wie das oft der Fall ist«, bemüht sich der Gemeindechef um Abgrenzung.

Für die Zukunft plant Rosen ein Artist-in-Residence-Programm in der Gemeinde: Ein jüdischer Künstler aus dem Ausland soll über einen bestimmten Zeitraum in Graz arbeiten und in Räumen der Gemeinde wohnen. Doch bis dahin wird noch etwas Zeit vergehen. Zuerst einmal sollen die Studenten kommen.

www.juedischegemeinde-graz.at

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