Frankreich

Gabriel Attal: Frankreichs Hoffnungsträger

Er ist der jüngste Premier, den das Land je hatte – und Macrons Geheimwaffe gegen die extreme Rechte

von Ute Cohen  18.01.2024 07:17 Uhr

»Dein Leben lang wirst du dich solidarisch fühlen mit den Juden, denn du wirst wie sie den Antisemitismus erdulden müssen«, sagte Gabriel Attals Vater zu seinem Sohn. Foto: picture alliance / Hans Lucas

Er ist der jüngste Premier, den das Land je hatte – und Macrons Geheimwaffe gegen die extreme Rechte

von Ute Cohen  18.01.2024 07:17 Uhr

Macrons Mini-Me, Milchbubi, Mogelpackung – Frankreichs neuer Premierminister Gabriel Attal wird überhäuft mit abwertenden Etikettierungen. Angeführt wird das Ranking der Beschimpfungen von homophoben Beleidigungen und anti­semitischen Verunglimpfungen.

Vor zwei Jahren bereits veröffentlichte der 34-Jährige auf Instagram Briefe, in denen er als Dreck und »Youpin«, ein abwertendes Wort für Jude, bezeichnet wurde. Das Schreiben gipfelte in der Drohung, den »Abfall zu verbrennen«. Anstatt sich ins Bockshorn jagen zu lassen oder als Opfer zu positionieren, entschied sich Attal zusammen mit seiner Partei für Vorwärtsverteidigung: Schreiberlinge wie diese hätten keinen Platz in der französischen Gesellschaft, ließ Macrons Partei Renaissance verlauten, in der auch Attal Mitglied ist.

Er verkörpert alles, was judenfeindlichen Bewegungen sauer aufstößt

Die Feinde des jungen Premiers wissen, womit sie zu rechnen haben. Die Marken sind gesetzt. Gabriel Attal verkörpert alles, was identitären, egalitären und rechts wie links judenfeindlichen Bewegungen sauer aufstößt. Sein Bildungshintergrund und die bürgerliche Herkunft machen ihn für die Linke unter Jean-Luc Mélenchon zum Inbegriff einer Finanzelite, den Rechten wiederum sind seine freigeistige Lebensweise und die ursprüngliche Verwurzelung im linken Spektrum ein Dorn im Auge. Nicht wenige auf beiden Seiten eint das alte Feindbild »Jude«.

Attal trägt einen tunesisch-sefardischen Namen, der vielen Franzosen vertraut ist. Charlotte Gainsbourgs Ehemann heißt Yvan Attal, Ben Attal der gemeinsame Sohn. Gabriel Attals Vater Yves machte als Anwalt und Filmproduzent Karriere. Unter anderem ermöglichte er Pedro Al­mo­dovars Kassenschlager High Heels – Die Waffen einer Frau. Als typischen 68er beschreibt ihn der Sohn. Selbstverständlich habe sein Vater die Sozialistische Partei gewählt und die linke Zeitung »Libération« gelesen.

Seine Familiengeschichte zeugt von den Schrecken des 20. Jahrhunderts.

Gabriel Attals Mutter ist die Filmproduzentin Marie de Couriss, abstammend von einer russisch- und griechisch-orthodoxen Adelsfamilie, die ihre Wurzeln in Odessa hat. Gabriel Attal wurde in der Alexander-Newski-Kathedrale in Paris russisch-orthodox getauft. Er selbst »fühle sich der Frage der Transzendenz zwar nicht fremd«, so Gabriel Attal, betrachte sich aber als nicht-gläubig.

Dass er sich in einem religiösen Spannungsfeld bewegt, ist Attal jedoch bewusst. Seine Familiengeschichte zeugt von den Schrecken des 20. Jahrhunderts: Ein Teil der Familie wurde deportiert. Attals Großvater soll laut »Le Monde« nicht selten gesagt haben: »Gott ist in Auschwitz gestorben.« Dessen Sohn Yves Attal gab dem heutigen Premier Warnung und Weissagung mit auf den Weg: »Dein Leben lang wirst du dich solidarisch fühlen mit den Juden, denn du wirst wie sie Antisemitismus erdulden müssen.«

Wegen seiner Sexualität gemobbt

Zu spüren bekam Gabriel Attal die Ressentiments bereits während der Schulzeit. Als er die renommierte Privatschule École Alsacienne besuchte, wurde er ob seiner jüdischen Wurzeln und seiner Sexualität gemobbt. Diese Erfahrungen flossen auch in seine späteren politischen Zielsetzungen ein. Als Attal 2023 zum Bildungsminister ernannt wurde, kündigte er einen »Schock des Wissens« an: Er verbot das Tragen der Abaya, eines muslimischen Gewandes, in der Schule, forderte eine Anhebung des Schulniveaus und bessere Berufs­bedingungen für Lehrer.

Er selbst ist der glaubhafte Beweis für den Triumph von Bildung: Absolvent der Hochschule Sciences Po, Stipendiat der Villa Medici in Rom, frühes politisches Engagement bei der Sozialistischen Partei, loyal von Anbeginn gegenüber Emmanuel Macron. 2017 wurde er in die Nationalversammlung gewählt. Zunächst Parteisprecher, wurde er bald zum Staatssekretär im Bildungsministerium ernannt. Als Regierungssprecher stellte er rhetorisches Geschick und Schärfe unter Beweis, vor allem im Umgang mit Impfgegnern. Anschließend fungierte er als Haushalts- und fortan als Bildungsminister. Dieser fulminante Aufstieg gipfelt am 9. Januar 2024 in der Ernennung zum Premierminister.

Dass Attal der dritte jüdische Premierminister in Folge ist, ruft die üblichen antisemitischen Kritikaster auf den Plan. Macron, dem ohnehin eine Nähe zur jüdischen Gemeinde nachgesagt wird, ging durchaus ein Risiko ein, indem er Attal an seine Seite rief.

Der fulminante Aufstieg gipfelte in der Ernennung zum Premier.

Bereits seit Ende des letzten Jahres fieberte Frankreich, wer Élisabeth Bornes Amt übernehmen würde. Die Illustrierte »Paris Match« warf gleich 15 Namen in den Ring, darunter Schwergewichte, Outsider, Ehemalige. Gabriel Attal wurde den Getreuen zugerechnet.

Warum Macron überhaupt den Rücktritt seiner Premierministerin forderte, liegt offensichtlich daran, dass seine Regierung als schwach wahrgenommen wurde. Die Rentenreform und das Budget für 2024 erforderten den Rekurs auf Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung, den Regierungen immer dann beanspruchen, wenn sie keine Mehrheit in der Nationalversammlung haben.

Das verschärfte Migrationsgesetz wurde mit den Stimmen des rechten Rassemblement National auf den Weg gebracht. Seither war in Frankreich von einer Regierungskrise die Rede, vor allem Mélenchon warf Macron diktatorisches Gebaren vor, ein Teil der eigenen Wählerschaft Verrat an der Zielsetzung, der pragmatischen Versöhnung von linker und rechter Politik zugunsten eines starken, gerechten und sicheren Frankreich.

Von seinen Zeitgenossen erwartet er Arbeit und Leistung

Um diesem Dilemma zu entkommen, entschied sich Präsident Macron für einen Bruch: Er forderte seine Premierministerin zum Rücktritt auf. Eine Renaissance, der Name der Partei ist Programm, verspricht Macron den Franzosen. Wer aber soll sie verkörpern, die Wiederbelebung des Landes? Wer vor allem wird die Rechten mit Jordan Bardella, einem ebenfalls jungen Senkrechtstarter, übertrumpfen?

Gabriel Attal hat die Gedankenschärfe, um aus der Erfahrung Macrons zu lernen. Weder Fisch noch Fleisch ist seine Sache nicht, ebenso wenig zeigt er sich so autoritär wie Macron. Er habe sich einen Panzer zugelegt nach all den Schmähungen, sagte Attal. Arbeit und Leistung erwartet er von seinen Zeitgenossen.

»Ohne Tabu« werde er ans Werk gehen, versichert Gabriel Attal. Drohung? Verheißung? Ein den Stachel traktierendes Versprechen.

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