Ukraine

Für immer verloren

Zeltlager für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine in der moldauischen Hauptstadt Chisinau Foto: picture alliance / AA

Ein Ende des Krieges in der Ukraine scheint weit entfernt, und es ist schwierig, sich das Ausmaß des Schadens vorzustellen, den die russischen Truppen in den vergangenen drei Monaten angerichtet haben. Die Wirtschaft der Ukraine kann mithilfe der internationalen Gemeinschaft innerhalb von Jahren sicherlich wiederhergestellt werden, und die zerstörten Städte wird man wiederaufbauen.

Unter der im Krieg beschädigten ukrainischen Infrastruktur befinden sich auch wichtige Objekte der jüdischen Gemeinde. Während die beschossenen Synagogen in Charkiw vermutlich mit relativ geringem Aufwand repariert werden können, sind die alte Synagoge und das neue Gemeindezentrum in Mariupol vollkommen zerstört und können nicht wiederhergestellt werden.

Aus Angst vor der Nähe zu Russland werden nach Kriegsende viele Menschen nicht zurückkehren.

Auch das Mahnmal für die Opfer des Holocaust am Stadtrand von Charkiw hat unter dem Beschuss gelitten, aber nicht sehr stark. Russische Raketen und Granaten durchpflügten jüdische Friedhöfe in den Regionen Kiew, Odessa und Sumy. Für die jüdische Tradition, die ehrfürchtig mit den Überresten der Verstorbenen umgeht, ist dies äußerst schmerzhaft. Dem materiellen jüdischen kulturellen Erbe in der Ukraine ist aber im Großen und Ganzen kein wirklich irreparabler Schaden zugefügt worden.

HILFE Neben diesen Schäden gibt es aber auch unwiederbringliche Verluste. Zuallererst sind da die Menschenleben. Darüber hinaus zwangen die Feindseligkeiten Millionen Ukrainer, ihre Häuser zu verlassen und ins Ausland zu fliehen. Unter ihnen sind viele Juden. In benachbarten Ländern wurden, mit Unterstützung der Jewish Agency und weiterer Organisationen wie des American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT), Zeltlager errichtet, um Flüchtlingen zu helfen und sie weiter nach Israel oder in andere Länder zu leiten.

Doch besteht ein großer Unterschied zwischen Juden und anderen Ukrainern, die ins Ausland fliehen. Es gibt einen Staat, der bereit ist, den jüdischen Ukrainern nicht nur zu helfen und sie sofort aufzunehmen, sondern ihnen auch die Staatsbürgerschaft zu verleihen: Israel. Die Anforderungen an Dokumente zum Nachweis der Identität und zur Bestätigung des Rechts auf Rückkehr sind derzeit aufgrund des Krieges vereinfacht, und das Verfahren zur Ausstellung israelischer Pässe wurde beschleunigt.

Rund 16.000 Menschen aus der Ukraine haben diese Gelegenheit seit Kriegsbeginn genutzt und wurden in Israel aufgenommen. Die Behörden kümmern sich da­rum, Neueinwanderer, die in ihrem Heimatland oft alles verloren haben, zu unterstützen und sie in die israelische Gesellschaft zu integrieren.

Zwar lebt die überwiegende Mehrheit der Ukrainer in der Hoffnung auf eine Rückkehr. Doch nicht alle Flüchtlinge werden aus den Ländern, die ihnen vorübergehend Zuflucht gewährt haben, in die Ukraine zurückkehren. Viele werden Russland, auch wenn der Krieg eines Tages vorbei ist, weiterhin als existenzielle Bedrohung empfinden und deshalb lieber im Ausland bleiben.

Alltag Das Leben der meisten ukrainischen Flüchtlinge geht inzwischen normal weiter: Die Kinder gehen in Schulen und Kindergärten, die Geflüchteten lernen die Sprache ihres Gastlandes, und sie finden Arbeit.

Schon jetzt zeigt sich, dass die jüdische Gemeinde in der Ukraine im Vergleich mit der Gesamtgesellschaft durch die kriegsbedingte Emigration überproportional viele Menschen verloren hat. Während des Zerfalls der Sowjetunion vor 30 Jahren hatte es eine große Auswanderungswelle nach Israel, Deutschland und in die Vereinigten Staaten gegeben. Doch auch danach war die jüdische Gemeinde in der Ukraine noch immer groß. Inzwischen ist die Zahl der Gemeindemitglieder auf ein kritisches Minimum gesunken. In vielen, auch relativ großen Städten wird es nach dem Krieg keine jüdischen Gemeinden mehr geben.

Erst im vergangenen Jahr wurden die Karäer und die Krimtschaken zu indigenen Völkern erklärt.

TURKSPRACHEN Ein Aspekt, der selten erwähnt wird, ist die ethnisch-kulturelle Vielfalt der ukrainisch-jüdischen Gemeinde. Neben den osteuropäischen Aschkenasim gibt es zwei weitere einzigartige Gemeinschaftsgruppen: die Krim- und die Galizisch-Wolyner Karäer sowie die Krim­tschaken. Diese Gruppen hatten wie die aschkenasischen Juden ihre eigene Kultur und Tradition. Inmitten der muslimischen Bevölkerung der Südukraine entstanden, sprachen sie jüdische Dialekte der Turksprachen. Die Karäer unterscheiden sich bekanntlich auch in ihrer religiösen Tradition von den meisten Juden – sie erkennen die Autorität des Talmuds nicht an.

Die Einzigartigkeit dieser kleinen jüdischen Gruppen ist so groß, dass die Ukrai­ne sie im vergangenen Jahr, zusammen mit den Krimtataren, per Gesetz als indigene Völker anerkannt hat. In welchem anderen Land der Welt haben Juden als indigenes Volk einen besonderen Schutzstatus? Diese Situation ist einzigartig.

In den vergangenen drei Monaten wurden diese Gemeinden zerstreut und teilweise nach Russland deportiert. So gibt es in der Stadt Mariupol derzeit keine Karäer mehr. Und es ist unwahrscheinlich, dass sie dort oder in Melitopol, wo sich vor der russischen Invasion das karäische Kulturzentrum befand, als Gemeinschaften jemals wiederhergestellt werden. In Charkiw wurde die einzige karäische Synagoge des Landes geschlossen. Viele Gemeindemitglieder haben die Stadt verlassen.

Die jüdische Gemeinde in der Ukraine erlebt durch den Krieg Verluste, die unwiederbringlich sind. Vor unseren Augen wird dieser Tage ein einzigartiger Teil der jüdischen Diaspora zerstört.

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