Wer Suzan LeVine in ihrer Berner Residenz besucht, dem fällt ein kleines Alphorn auf, das auf einer Kommode am Eingang liegt. »Auch aus diesem typisch schweizerischen Instrument bringe ich Töne heraus«, sagt die Botschafterin.
Aber gleich ist es dann doch das große, lange Schofar, das die Aufmerksamkeit des Besuchers erregt; es passt kaum auf die Kommode vor dem Fenster. Dahinter sieht man die Berge des Berner Oberlands – eine Landschaft wie im Bilderbuch.
Mizwa Es ist nicht das erste Mal, dass der Chefdiplomat der Vereinigten Staaten in der Schweiz Jude ist. Und auch eine jüdische US-Botschafterin gab es bereits. Eine jüdische Top-Diplomatin aber, die an Rosch Haschana ihre Residenz verlässt, um, wie sie sagt, »jüdischen Menschen die Mizwa zu ermöglichen, den Klang des Schofars zu hören« – das ist ungewöhnlich und vermutlich weltweit einzigartig.
Die 45-Jährige mit dem modernen Kurzhaarschnitt und dem sympathischen Lachen geht mit dieser Tatsache eher locker um. Suzy LeVine, von Präsident Obama laut New York Times vor allem deswegen auf den Posten berufen, weil sie große Beträge für seine Wahlkämpfe gesammelt habe – in den USA keine ganz unübliche Karriere –, ist seit etwas mehr als einem Jahr Botschafterin in Bern. Und LeVine tut offensichtlich neben dem Schofarblasen durchaus noch andere ungewöhnliche Dinge: So war sie die erste Diplomatin, die ihren Amtseid auf einem E-Book-Reader ablegte, auf dem die amerikanische Verfassung zu sehen war, was vor allem in den sozialen Medien für Aufsehen sorgte.
Nicht bekannt in der Öffentlichkeit ist, dass Suzan LeVine vor einigen Monaten an Pessach einen interreligiösen Seder initiierte (und auch leitete), an dem auch ein Imam, ein Pfarrer und Vertreter weiterer Religionen um den Tisch saßen. Man ging dort gemeinsam der Frage nach, in welcher Form die biblischen Plagen heute daherkämen. Statt »Ungeziefer« oder »Tod der Erstgeburt« nannte man »Intoleranz« und »Klimawandel«. Mit solchen Initiativen ist LeVine offenbar durchaus auf der Linie ihres Dienstherrn Obama.
Boulevard Beim Schofar, mit dem sie sich auch schon mal in einer Schweizer Boulevardzeitschrift ablichten lässt (wenn auch ohne Tallit, den sie aber beim Gottesdienst trägt), ist der Mann im Weißen Haus aber wohl nicht unbedingt ihr Ansprechpartner. Ihre Beziehung zu diesem Instrument, das an Rosch Haschana eine sehr zentrale Rolle spielt, geht zurück auf das Jahr 1981, verrät sie. Gerade mal zwölf Jahre alt, verbringt sie ihre Ferien mit ihren Eltern in Israel.
»Wir gingen über den Jerusalemer Machane-Jehuda-Markt. Und kurz vor den Feiertagen gab es dort einen großen Stand mit Schofarot«, erzählt sie. »Dieses hier fiel mir sofort auf.« Sie nimmt das Schofar fast zärtlich in die Hand. »Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick, dieses hier musste es sein. Es sprach mich regelrecht an.« Die Zwölfjährige kann ihre etwas skeptischen Eltern schließlich überzeugen. Das Schofar wird gekauft, und damit beginnt LeVines Karriere als »Baalat Tokia«, wie es im Hebräischen heißt, als »Herrin der Töne«.
In den konservativ-egalitären Kreisen, in denen sich die junge Frau bewegt, sowohl in New Jersey, wo sie aufwächst, als auch in Seattle, wo sie später leben wird, ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Frau und nicht wie in orthodoxen Kreisen ein Mann das Schofar bläst. Allerdings: »Beeindruckt hat mich damals eben zuerst doch ein Mann. Denn seine Tekia Gedola (der Schlusston, der deutlich länger sein muss als die anderen Töne) war außerordentlich.«
Dieser Schlusston weckte LeVines Ehrgeiz: »So gut wollte ich auch blasen.« Sie schafft es und wird bald auch an ihrer Universität, wo sie zum Gottesdienst geht, gebeten, das Schofar zu blasen. Sie sagt zu – und bereut es gleich wieder, denn: »So viele Leute – das fand ich schwierig.« Sie sehe das Schofarblasen auch als eine riesige Verantwortung: »Der Ton soll uns ja aufwecken und uns unsere Optionen fürs neue Jahr bewusst machen.«
Entsprechend ernst nimmt die Botschafterin die Aufgabe und übt den ganzen Monat Elul vor Rosch Haschana, was manchmal angesichts ihres strengen Tagesablaufs nicht einfach ist. »Aber irgendwie finde ich immer ein paar Minuten«, sagt sie. Selbst ihr Pudel Vegas habe sich inzwischen an die ungewohnten Töne gewöhnt, sagt sie und lacht.
Expats LeVine übt aber nicht nur so für sich, um das Schofarblasen nicht zu verlernen. Nein, sowohl vergangenes als auch dieses Jahr bat eine Gemeinde sie, das Schofar im Gottesdienst zu blasen. Allerdings war es nicht die Berner Gemeinde, deren Synagoge sie von ihrem Fenster aus sehen kann – wo sie aber aus Zeitgründen noch nie war, was sie sehr bedauert. Die Anfrage kam von Migwan aus Basel. Migwan versteht sich selbst als liberale Gemeinde und nennt sich auch so. Zu Migwan kommen auch viele englischsprachige Beter, es sind vor allem Amerikaner, sogenannte Expats, die es in die Rheinstadt verschlagen hat. Für sie ist die Schofar blasende Frau und Top-Diplomatin natürlich eine zusätzliche Attraktion. Die nötigen Sicherheitsmaßnahmen nehmen sie gern in Kauf.
Und so wird Suzan LeVine in diesem Jahr am zweiten Tag von Rosch Haschana (am ersten Tag hat sie andere Verpflichtungen) bei Migwan erneut Schofar blasen. Und zwar 100 Töne, das sind 30 mehr als in vielen traditionellen Gemeinden üblich – inklusive des langen Schlusstons, der Tekia Gedola.