Purim

Esthers Vermächtnis

In der kleinen Synagoge der Stadt Hamedan lässt sich Zeitgeschichte am Muster der Teppiche ablesen. Die älteren zeigen einen Davidstern, die neueren nur die Menora, den siebenarmigen Leuchter. Sie wurden nach der Revolution geknüpft; der Staat half bei ihrer Anschaffung, er hilft auch, die kleine Synagoge zu erhalten. Und da sich auf der Flagge Israels ein Davidstern befindet, ist ein heutiger Teppichknüpfer gut beraten, ein anderes schönes Muster zu wählen. So diffizil geht es zu in iranisch-jüdischen Angelegenheiten: Ein Davidstern in historischem Kontext, auch auf alten Türen, ist politisch neutral; ein neu gefertigter Davidstern wäre es nicht.

Hamedan, westlich von Teheran gelegen, ist eine der ältesten Städte Irans und deshalb ein guter Ort, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie lange Juden bereits auf iranischer Erde leben: etwa 2700 Jahre. Irgendwann während dieser langen Zeit haben die Menschen in Hamedan eine Legende angesiedelt, die wir aus dem biblischen Buch Esther kennen. Der Überlieferung zufolge war Esther die jüdische Gattin des persischen Herrschers Xerxes im fünften Jahrhundert v.d.Z. Sie hielt die Hand über die Juden des Reiches und schützte sie vor dem Mordkomplott eines übelwollenden Hofbeamten.

legende Diese Wendung zum Guten feiern Juden weltweit beim alljährlichen Purimfest. Es handelt sich hier nicht unbedingt um historische Fakten, doch enthält die Legende ein bemerkenswertes Detail: Einer jüdischen Königin im alten Persien wurde so viel Einfluss zugeschrieben, dass ein adliger Hofbeamter mit seiner ganzen Sippe hingerichtet wurde, weil er – modern gesprochen – ein krasser Antisemit war.

Neben der kleinen Synagoge von Hamedan steht ein höherer Kuppelbau: Er gilt als Mausoleum von Esther und ihrem gleichfalls heldenmütigen Cousin Mordechai. Ein betagter Gemeindediener schob für mich die schwere Steintür der Grabkammer zur Seite. Er sprach ein Französisch von altmodischer Eleganz; es entstammte der Schah-Zeit, wie die Teppiche mit Davidstern.

Hamedan war einst ein Zentrum jüdischen Lebens; heute bestehe die Gemeinde nur noch aus fünf Familien, sagte der alte Mann. Eine so kleine Minderheit könnte sich bedroht fühlen. Doch um Zutritt zur Synagoge und zum Grabheiligtum zu bekommen, hatte ich nur eine Klingel drücken müssen, wenige Schritte von einer belebten Marktgasse entfernt. Jüdische Einrichtungen bedürfen in Iran keiner Bewachung, anders als in Europa.

status 1948, als Israel gegründet wurde, lebten in Iran etwa 100.000 Juden. Zur Zeit der Revolution 1979 waren es noch 80.000. Viele wohlhabende Säkulare zogen nun in die USA, fromme Arme emigrierten nach Israel. Dorthin auszuwandern, bedarf heute, anders als im ersten Jahrzehnt nach der Revolution, keiner klandestinen Fluchtwege mehr, und aus Israel locken weiterhin großzügige finanzielle Prämien. Aber die etwa 10.000 Juden, die nach allen politischen Stürmen gegenwärtig noch in Iran leben, wollen bleiben.

Sie leben in Sicherheit; als Bürger sind sie indes nicht gleichberechtigt. Höhere Posten in Politik, Militär und Verwaltung bleiben ihnen verwehrt. Dafür genießen sie Kultfreiheit, verfügen über koschere Metzgereien und Restaurants, jüdische Bibliotheken und staatliche Hilfe beim Unterhalt der Synagogen. Davon gibt es dreizehn allein in Teheran, wo die meisten Juden leben; es sind teils prächtige Bauten. Die Gemeinde in der Hauptstadt besitzt außerdem vier Schulen, zwei Kindergärten, ein Altenheim und ein Hundert-Betten-Krankenhaus.

Nach der Konstitutionellen Revolution von 1906 schrieben Juden mit an der neuen Verfassung; seitdem haben sie einen Quotensitz im Parlament. Auch Zoroastrier und Christen (Armenier, Assyrer) haben dort eigene Vertreter. Aus religiösen Gründen werden in Iran also nicht etwa die Juden verfolgt, sondern zwei andere Gruppen: Muslime, die zum Christentum konvertierten; sie können sich nur heimlich in sogenannten Hauskirchen, Wohnungen, treffen. Und die Baha’i, denen nicht verziehen wird, dass sie sich als Nachfolgereligion des Islam betrachten; ihnen ist sogar höhere Bildung verwehrt.

exil Was die Juden betrifft, verweist die iranische Führung hingegen gerne auf das alte Band, das Iraner und Juden verbindet. Es geht zurück auf Kyros den Großen, den Begründer des persischen Weltreiches. Als er im Jahr 539 v.d.Z. Babylon einnahm, befreite er die Juden aus der sprichwörtlichen Babylonischen Gefangenschaft, die ein halbes Jahrhundert gedauert hatte, und erlaubte ihnen die ungehinderte Ausübung ihrer Religion.

Sein Dekret wird durch einen Tonzylinder, den sogenannten Kyros-Zylinder, beglaubigt; er wurde bei Ausgrabungen im 19. Jahrhundert gefunden und wird von Iranern gern als älteste Human-Rights-Erklärung der Menschheit bezeichnet. Ein Teil der befreiten Juden kehrte nach Jerusalem zurück, wo auf Geheiß von Kyros der Bau des Zweiten Tempels begann; andere blieben. Seitdem ist Iran für Juden Heimat, nicht Diaspora. Ihre Sprache war immer persisch, und sie bewahrten an manchen Orten wie in Isfahan den ursprünglichen Dialekt der Stadt.

Neben langen Epochen friedlichen Zusammenlebens gab es auch dunkle Zeiten. Ab dem 16. Jahrhundert, nachdem das Schiitentum Staatsreligion geworden war, galten Juden als kultisch »unrein«. Sie sollten sogar bei Regen die Häuser nicht verlassen, damit das Grundwasser nicht verunreinigt wurde. Im 18. und 19. Jahrhundert kam es zu Morden, Vertreibungen, Zwangsbekehrungen.

Schutzformel Pogrome nährten sich oft vom Gerücht, Juden würden Kinder rituell töten. Der deutsch-iranischen Islamwissenschaftlerin und Theologin Katajun Amirpur verdanke ich den Hinweis, dass auch die geschätzte klassische persische Literatur keineswegs frei von antijüdischen Ressentiments war.

Und doch gab es immer auch gegenteilige Kräfte: Juden waren in der iranischen Kultur verwurzelt, und sie wurden anders als im arabischen Raum nie gedrängt, das Land zu verlassen. Eine Minderheit beteiligte sich sogar an der Revolution gegen den Schah; einige waren Kommunisten. Als Soldaten im September 1978, am »Schwarzen Freitag«, unter Demonstranten ein Blutbad anrichteten, waren nur die Ärzte des jüdischen Krankenhauses furchtlos genug, die Verletzten aufzunehmen. Dennoch wurde der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde ein Opfer der Hinrichtungswelle nach dem Sieg der Revolution. Er war ein prominenter Unternehmer, der dem Schah nahestand. In Panik entsandte die Gemeinde eine Delegation zu Khomeini, um ihm die Loyalität der Juden zu versichern.

Khomeini antwortete mit einem Satz, der wenig später als Schutzformel an allen Synagogen stand: »Wir erkennen an, dass unsere Juden mit diesen gottlosen Zionisten nichts zu tun haben.« Dieses Arrangement gilt bis heute.

image Es ist gewiss nicht alles gut im Leben iranischer Juden. Doch ist dieses Leben besser als von der Außenwelt angenommen – und vor allem anders. Wie die Christen halten sich Juden von allem Oppositionellen vorsichtshalber fern. Die Gemeinde ist zur Kooperation mit Staat und Regierung gezwungen; sie muss gewissermaßen eine Haltung systembejahender Neutralität einnehmen. Das hat wenig mit Religion zu tun und viel mit den politischen Eigentümlichkeiten der Islamischen Republik.

Welche Verstrickungen dieser Status mit sich bringt, zeigt bereits die Frage, wie die Zahl von Juden in Iran beziffert wird. Obwohl der letzte Zensus weniger als 10.000 ermittelte, sprechen Regierung wie Gemeinde gern von 20.000 oder 25.000. Die Gemeinde profitiert von der überhöhten Zahl, weil sich daran die finanzielle Subvention durch das Innenministerium bemisst. Die Regierung hat wiederum an einer möglichst hohen Zahl ein politisches Interesse. Die Islamische Republik schmückt sich heutzutage mit ihren Juden: Sie passen in das neue Image als gemäßigte Regionalmacht in einem radikalisierten (sunnitischen) Umfeld.

quotensitz Auch der Quotensitz im Parlament hat jene Doppelgesichtigkeit, die so vielem in Iran eigen ist. Die Wahl dieses Abgeordneten führt die Gemeinde autonom durch, sie hat selbst die Urnen, und es steht jedem jüdischen Bürger frei, ob er sich daran beteiligt oder ob er, wie andere Iraner, seine Stimme für eine politische Liste abgibt. Das klingt gut. Nur: Welcher jüdische Kandidat akzeptabel ist, das muss mit der Regierung im Vorhinein abgesprochen werden. Und manchmal werden zusätzlich ein oder zwei schwache Konkurrenten aufgestellt, damit das Ganze demokratisch wirkt.

In der Amtszeit von Hassan Rohani hat sich manches entspannt. Der Präsident erwarb sich Vertrauen durch einige demonstrativ projüdische Gesten. Gleich zu Beginn schickte er Glückwünsche zum Neujahrsfest Rosch Haschana in alle Welt, später subventionierte er das jüdische Krankenhaus und gab den Schabbat schulfrei (er fällt in Iran auf den Wochenbeginn). Diese Regelung hatte es bereits in der ersten Zeit nach der Revolution gegeben; dass sie abgeschafft wurde, war für viele Juden ein Grund zu gehen. Nun erfüllte Rohani einen Wunsch, den die Gemeinde vergeblich an alle seine Vorgänger herangetragen hatte.

hebräisch Arash Abaie war ein zierlicher, jugendlich wirkender Mann Anfang 40, der sich als jüdischen Aktivisten bezeichnete. Vor gut zwei Jahrzehnten, als die meisten Rabbiner und Religionslehrer emigriert waren, zählte Abaie zu den jungen Autodidakten, die in die Bresche sprangen. Es war eine Bildungsbewegung von Laien, aus der Not geboren. »Jemand sagte zu mir: Geh in diese Synagoge da und gib Unterricht. Ich hatte so was noch nie gemacht.«

Abaie war Ingenieur in einem privaten Unternehmen. Bei der Einstellung hatte er dem Chef gesagt, er sei Jude und könne samstags nicht arbeiten. Das wurde problemlos akzeptiert; sein Gehalt war entsprechend reduziert. Seine Kollegen dachten vermutlich, er hätte wie so viele Iraner noch einen anderen Job. Das war nicht ganz falsch; Abaie hielt zwar die Schabbatruhe, aber ansonsten unterrichtete er in jeder freien Minute jüdische Religion und Hebräisch, an mehreren Schulen und sogar an einer Universität.

Die jüdischen Schulen folgen außer in Religion demselben Lehrplan wie staatliche Schulen, und viele jüdische Eltern bevorzugen Letztere, weil sie besser seien, sagte Abaie. Die jüdischen Kinder der staatlichen Schulen bekamen bei ihm freitags, wenn in Iran schulfrei ist, Extrakurse. Persischsprachige Lehrbücher zum Judentum werden in Iran gedruckt.

fakultät
Jeden Donnerstag fuhr Abaie nach Qom, in die Stadt der schiitischen Kleriker, um dort an einer Universität Judentum zu lehren. Das war spektakulär. Sein Kontakt mit Qom ging auf die Amtszeit des Reformpräsidenten Khatami zurück, dem der Dialog der Religionen am Herzen lag. Damals entstand zunächst ein Forschungsinstitut für interreligiöse Fragen; 2005 wurde daraus die »University of Religions and Denominations«, kurz URD. Eine einzigartige Einrichtung in Iran, die ich später selbst in Augenschein nehmen würde.

An der »Fakultät für abrahamitische Religionen«, wo Abaie lehrte, befassen sich Masterstudenten und Doktoranden mit Judentum und Christentum. Zusätzlich gibt es Kurse über die sonst oft geächteten nicht-monotheistischen Religionen, über Buddhismus und Hinduismus. Es ist an der URD also normal, dass Schiiten Judaismus lehren.

Aber während ihre Kollegen, die Christentum unterrichten, einige Monate im Vatikan verbringen, um sich weiterzubilden, können die Judaismus-Dozenten nirgends hinfahren: Israel ist für sie tabu, und die jüdischen Einrichtungen im Westen haben auch meist irgendwelche Beziehungen zu Israel.

frauen Juden können im Staatsdienst arbeiten, zum Beispiel Lehrer an einer staatlichen Schule sein, aber sie dürfen keine Leitungsposition einnehmen. Deshalb müssen sogar die jüdischen Schulen einen muslimischen Rektor haben. Innerhalb der Gemeinde kann von Gleichberechtigung der Geschlechter nicht die Rede sein. Im zwölfköpfigen Teheraner Vorstand ist nur eine einzige Frau. Der Sitz im Parlament ging bisher immer an einen Mann, und eine Kantorin haben iranische Synagogen noch nicht gesehen. Nur die Verwaltung des Krankenhauses wurde einige Jahre von einer Frau geleitet.

Familiäre Angelegenheiten dürfen die religiösen Minderheiten nach dem Recht ihrer jeweiligen Religion regeln. Nach der Halacha, wie sie in Iran praktiziert wird, ist für Frauen eine Scheidung noch schwerer zu erwirken als nach islamischem Recht.

»Das ist fast unmöglich«, sagte Elham Abaie. »Es liegt an unseren Rabbinern. Nur sie könnten etwas ändern.« Gemischte Ehen von Juden und Muslimen sind extrem selten. Die Rabbiner trauen keine gemischten Paare; die jungen Leute werden von der Gemeinde geächtet, manchmal sogar von den Eltern verstoßen. Eng zusammenstehen, lautet die Devise. Deshalb kennen iranische Juden auch keine unterschiedlichen Glaubensströmungen, haben weder Reformer noch Ultraorthodoxe.

Den Text »Esthers Vermächtnis« entnehmen wir dem Buch »Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten« von Charlotte Wiedemann, das in diesen Tagen bei dtv erscheint. Er wurde von der Redaktion leicht gekürzt und bearbeitet. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabbdruck.

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