Lausanne

»Es ist ein Angriff auf das Prinzip der Universität«

Jacques Ehrenfreund lehrt in Lausanne jüdische Geschichte Foto: Felix Imhof

Herr Ehrenfreund, an der UNIL schüchtern Demonstranten jüdische Lehrende und Studenten ein. Wie geht es Ihnen?
Ich bin der Sohn von zwei Menschen, die viel Schlimmeres erlebt haben, und in der Lage, die Dinge mit Distanz wahrzunehmen. Aber ich bin überrascht. Ich habe das so nicht vorausgesehen.

Es gab keinerlei Anzeichen?
Ich unterrichte an der Universität Lausanne seit 15 Jahren, ich hatte Hunderte von Studenten, und nie gab es ein einziges Problem. Jede Generation von Studenten hat ihre radikalen Dummheiten geäußert, das war schon immer so. Aber dass so viele Kollegen das unterstützen, obwohl klar ist, dass es antisemitische Aussagen sind, das wundert mich.

200 Kollegen sollen es sein …
200 haben einen Unterstützerbrief unterschrieben, Professoren, Assistenten, Doktoranden. Und sie wollen nicht weniger als den entscheidenden Unterschied zwischen Akademie und Politik abschaffen. Darauf haben wiederum sehr viele Kollegen reagiert und gesagt, dass dies ein Angriff auf das Prinzip der Universität selbst ist. Professoren sind dazu da, um zu versuchen, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Und jetzt kommen diese Leute, die den Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik gar nicht mehr anerkennen. Diese extreme Politisierung ist das Schlimme. Und die ist natürlich besonders effektiv, wenn man von Israel oder den Juden spricht.

Woher kommt diese Radikalität?
Die Wurzeln reichen in den Relativismus, zu Foucault und der französischen Postmoderne, wo es hieß, dass es Wahrheit gar nicht gibt, sondern nur Wahrheiten, von der Sprache her determiniert. Das führt 30, 40 Jahre später dazu, dass in den Sozialwissenschaften keiner mehr an den Unterschied zwischen Politik und Akademie glaubt. Das ist gefährlich für eine Demokratie! Die braucht einen Ort, wo die Leute dafür bezahlt werden, dass sie nach der Wahrheit suchen. Es ist natürlich naiv zu glauben, dass jeder von uns das erreicht, aber wir sollten uns bemühen, um die Welt etwas mehr zu verstehen. Aber diese Menschen wollen die Welt verändern, ohne sie zu verstehen. Das ist wie bei Hegel, der sagt, die Philosophie hat das Ziel, die Welt zu verstehen, und Marx, der sagt, sie solle sie verändern. Plötzlich haben wir eine neue Art von Marxismus. Das Erstaunliche sind diese Tendenzen, über jüdische Themen erfolgreich zu mobilisieren.

Warum immer Israel? Was ist mit Jemen, dem Sudan, den Uiguren in China?
Für die gab es in Lausanne keine einzige Demonstration.

Der Antisemitismus steckt auch in 20-jährigen Schweizer Studenten?
Es ist komplizierter als das. Ich glaube, es ist kein Antisemitismus, sondern Antijudaismus, die ursprünglichere Form.

Und wo hat man den im Jahr 2024 her?
Das ist ein langes Erbe. Die jungen Menschen sind sich dessen gar nicht bewusst.

Gehen Sie heute in die Universität?
Ich habe nicht die Absicht, das zu tun.

Glauben Sie, dass die Universitätsleitung nun härter durchgreifen wird?
Die Universität hat jetzt ein Problem. Sie hat Appeasement gespielt und muss jetzt reagieren. Der Rektor hat mir gesagt, er werde antisemitische Aussagen nicht tolerieren. Er sei selbst vollkommen überrascht gewesen und hätte nie geglaubt, dass so etwas auf dem Campus möglich wäre.

Fühlen Sie sich ausreichend unterstützt?
Ich habe sehr viel Unterstützung von Kollegen erhalten, auch solchen, die ich gar nicht kenne. Ich habe mit meinem Kollegen von den Islamwissenschaften eine öffentliche Vorlesung über den Ursprung des palästinensisch-israelischen Konflikts gehalten …

Die Demonstranten verhindern wollten …
Was sie nicht geschafft haben. 600 Leute sind gekommen, es war ein Riesenerfolg. Uns wurde gedankt und gratuliert und gesagt, das sei genau das Richtige in diesem Moment. Dabei haben wir einfach unsere Arbeit als Historiker gemacht, wie es sich in einer Universität gehört.

Mit dem Professor für die Geschichte der Juden an der Université de Lausanne (UNIL) sprach Sophie Albers Ben Chamo.

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