Schweden

»Einschränkungen hält man hier nicht für nötig«

Saskia Pantell Foto: privat

Schweden

»Einschränkungen hält man hier nicht für nötig«

Saskia Pantell über Schwedens Sorglosigkeit in der Corona-Krise, Skitouristen und Verantwortung

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  30.03.2020 13:07 Uhr

Frau Pantell, auf Twitter posteten Sie vor ein paar Tagen ein Bild von vollen Bars und Restaurants, in denen junge Leute dicht an dicht gedrängt die Frühlingssonne genießen. Sie schrieben dazu: »Es ist Wahnsinn! Ich habe Angst, mich während der Corona-Krise in Schweden aufzuhalten.« Wie geht es Ihnen gerade?
Ich bin nach wie vor sehr beunruhigt. Es ist beängstigend, wie sorglos und ignorant die Mehrheit der Schweden mit dem Wissen um das Coronavirus umgeht. Ich würde gern weg von hier, in die USA oder nach Israel, aber das geht nicht. Es gibt keine Flüge mehr.

In Schweden wundert man sich derweil über diese aufgezwungene Isolation von außen.
Wenn es nach den meisten Schweden ginge, würden sie weiterhin reisen. Aber da sie nun nicht mehr nach Italien, Spanien oder Thailand fliegen können, verreisen sie munter im Inland. Hier, wo ich lebe, in Borlänge in der Region Dalarna, liegt eines der größten Skigebiete Schwedens – die Pisten sind allesamt offen, die bevorstehende Osterferiensaison nicht abgesagt, die Stockholmer strömen in Scharen hierher. Auch andere beliebte Urlaubsregionen sind davon betroffen – Gotland oder Südschweden.

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen?
Gerade läuft an meinem Fenster eine Gruppe junger Mädchen vorbei, vollbeladen mit Tüten vom Shopping, dicht nebeneinander. Die Straßen sind nach wie vor belebt, Restaurants, Cafés, Läden sind geöffnet. Immerhin wurde nun die Anzahl derer, die sich treffen dürfen, von 500 auf 50 herabgesetzt – immer noch viel zu viel.

Sie bleiben zu Hause?
Ich habe das Glück, dass ich von zu Hause arbeiten kann. Ich gehe nur hinaus, um für meine Mutter – sie ist 68 – einzukaufen. Es ist mir wichtig, dass sie unbedingt zu Hause bleibt, das habe ich ihr eingeschärft. Wenn ich draußen bin, im Supermarkt oder auf der Straße, halte ich Abstand zu anderen. Ich habe mein Fitnessstudio-Abo gekündigt mit der Begründung »Corona« – ich war die Einzige. Und ich musste es ganz regulär kündigen.

All das machen Sie freiwillig, aus persönlichem Verantwortungsgefühl. Denn eine offizielle Anweisung der Regierung gibt es nicht. Wie reagieren die Leute auf Ihre »freiwillige Distanz«?
Mit Unverständnis. Sie spielen die – auch von anderen kritischen Stimmen durchaus geäußerten – Ängste herunter. Es ist wie eine Parallelwelt: Um uns herum in Europa, ja, in der ganzen Welt, gelten immer strengere Auflagen, was das öffentliche Leben angeht. Es gibt überall offensichtlich notwendige Einschränkungen, die den Alltag betreffen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Deutschland, Israel, USA, wo mein Vater lebt, aber auch Schwedens Nachbarländer Norwegen, Dänemark und Finnland – in all diesen Ländern sind die Schulen geschlossen, wohlgemerkt seit zwei Wochen und von oben verordnet, liegt das öffentliche Leben still, tragen Supermarktkassiererinnen Handschuhe und Mundschutz. In Schweden hält man das nicht für nötig.

Woran liegt das?
Ich denke, die Gründe dafür sind so vielschichtig wie simpel – es ist eine kulturelle Frage. Zum einen ist es so, dass die Schweden eine gewisse Arroganz an den Tag legen: Schweden ist das beste Land der Welt, wir wissen es besser, wir erklären den anderen, was richtig ist und was falsch. Zum anderen beruht die Gesellschaft auf dem Gleichheits- und Kollektivprinzip – jedenfalls oberflächlich. Alle sind gleich, niemand darf sich hervortun. Dieses tiefverankerte Selbstbild geht mit einer nahezu uneingeschränkten Kritiklosigkeit einher.

Auch gegenüber der eigenen Regierung?
Besonders gegenüber der eigenen Regierung – wie auch den offiziellen Verlautbarungen der Behörden und Medien. Unser Staatsepidemiologe Corona-Regierungsberater  etwa, Anders Tegnell, rät den Leuten allen Ernstes, sie sollen Skifahren gehen! Und das machen sie. Und niemand scheint damit ein Problem zu haben. So etwas wäre in Israel undenkbar! Da sind die Leute die stärksten Kritiker der Regierung – und trotzdem halten sich jetzt fast alle an die Maßnahmen!

Mit welchen Argumenten begründet die schwedische Regierung ihre eher lockere Herangehensweise?
Es heißt, eine wirtschaftliche Krise infolge Corona-bedingter Einschränkungen wäre viel einschneidender als die Folgen des Virus selbst, also die Anzahl der Infizierten und Todesfälle. Hinzu kommt das Argument: Soziale Kontaktarmut würde die Anzahl der Depressionen erhöhen.

Wie sehen Sie das?
Ich denke, auch hier kommt wieder die grundsätzliche und gesellschaftlich-politisch-kulturell bedingte schwedische Abneigung zum Ausdruck, Probleme beim Namen zu nennen und sich mit ihnen konstruktiv auseinanderzusetzen. Herausforderungen der Integration? Antisemitismus? Extremisten unter Einwanderern? Da verschanzt man sich lieber hinter politisch korrekten Floskeln und der jahrzehntelangen sozialdemokratischen, liberalen Tradition.

Dabei ist es kein Geheimnis, dass Schweden seit Jahren mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, Beispiel Gesundheitswesen. Wie ist das Land auf die Pandemie vorbereitet?
Eher schlecht. In den vergangenen Jahren hat man immer mehr Pflegepersonal eingespart und Krankenhäuser geschlossen, gerade hier oben in Mittel- und Nordschweden muss man zum Teil weite Strecken fahren, um gesundheitlich versorgt zu werden. Denn auch in Borlänge ist das Virus längst angekommen. Dabei kann ich mich noch glücklich schätzen, dass ich nicht in der Großstadt lebe, sondern auf dem Land. Aber wenn jetzt die vielen Urlauber aus Stockholm hierherkommen, werden die Ressourcen noch knapper.

Wie lange kann die Regierung diese Zurückhaltung noch aufrechterhalten?
Ich denke, sie wird sich schon bald den neuen Zahlen anpassen müssen, denn sie werden explodieren, das zeigt die Erfahrung von Italien, Großbritannien, den USA.

Wie findet man in Schweden das zunehmende Kopfschütteln aus dem Ausland?
Nicht nachvollziehbar. Man hat nicht einmal Verständnis für die Dänen, die sehr deutlich ihrem Ärger darüber Luft machen, dass immer noch Schweden aus der Öresundregion zwischen Malmö und Kopenhagen pendeln dürfen.

Sind innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ähnlich kritische Stimmen zu vernehmen wie Ihre?
Teils, teils. Aber was mir auffällt: Die Gemeinden haben sich schon sehr frühzeitig auf die Situation eingestellt – auf der Webseite der Jüdischen Gemeinde Stockholm etwa gibt es ständig aktuelle Informationen, es werden Einkäufe für ältere Gemeindemitglieder organisiert, die Bewohner des Seniorenheims werden abgeschirmt, es gibt virtuelle Schiurim. Das ist wunderbar – und es funktioniert. Viele haben Familie in Israel oder den USA und können vergleichen. Die Perspektive ist eine andere.

Mit der Vorsitzenden der zionistischen Föderation Schwedens sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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