Ungarn

Ein bisschen Frieden?

In Ungarn gibt es vier sogenannte historische Religionsgemeinschaften. Eine von ihnen ist, neben den drei christlichen Kirchen (katholisch, reformiert, evangelisch), die jüdische mit ihrem Dachverband Mazsihisz. Deren oberstes Organ ist die Jahreshauptversammlung, zu der sich am vergangenen Sonntag 121 Vertreter der örtlichen Gemeinden und ihre Rabbiner versammelten.

Alle vier Jahre wählt die Jahreshauptversammlung den Präsidenten, den Geschäftsführer und den Vorstand. Da laut der Satzung ein Präsident nur für zwei Amtszeiten an der Spitze stehen darf, kandidierte der bisherige Leiter, András Heisler, diesmal nicht erneut.

ZAHLEN Schätzungen zufolge leben in Ungarn mehr als 120.000 Juden, die meisten von ihnen in Budapest. Der Verband verfügt über rund 40 Synagogen, in den meisten finden regelmäßig Gottesdienste statt. Obwohl Mazsihisz der Neologie angehört, einer besonderen ungarischen Strömung, die mit der konservativen Masorti-Bewegung vergleichbar ist, versteht sie sich in bestimmten Fragen ganz allgemein als Anwalt der Juden im Land. Neben der Aufrechterhaltung des religiösen Lebens sind die soziale Unterstützung und die Erweiterung der traditionellen jüdischen Erziehung die Hauptaufgaben von Mazsihisz. Darüber hinaus vertritt der Verband die Holocaustüberlebenden in Entschädigungsverfahren.

Dem neuen Vorsitzenden werden gute Kontakte ins Kabinett nachgesagt.


Mit einer klaren Mehrheit von 65 Prozent wählten die Delegierten am Sonntag den Brigadegeneral a. D. Andor Grósz zum neuen Präsidenten.

Der heute 72-Jährige hat an der Militärmedizinischen Akademie in Leningrad studiert, leitete ein Militärkrankenhaus und war nach 2013 Oberkommandierender des Gesundheitswesens der ungarischen Streitkräfte. Seit 33 Jahren leitet er die jüdische Gemeinde in der Stadt Kecskemét südöstlich von Budapest und ist Kuratoriums-Vorsitzender der öffentlichen Stiftung Holocaust-Dokumentationszentrum.

»Ich will Frieden und Ruhe, denn ohne sie gibt es keinen Fortschritt. Ich danke der Versammlung für ihre Unterstützung, insbesondere denjenigen, die mir ihr Vertrauen geschenkt und für mich gestimmt haben. Morgen beginnt der Aufbau«, sagte er in seiner Grundsatzrede.

In einem Interview mit dem jüdischen Journal »Szombat« betonte Grósz, eines seiner vordringlichsten Vorhaben sei es, der destruktiven Atmosphäre innerhalb von Mazsihisz schnellstmöglich ein Ende zu setzen. Die Rabbiner sollten ehrlich und konstruktiv miteinander reden. »Mein Ziel ist es, die Interessen und unterschiedlichen Positionen einander näherzubringen und zu versuchen, einen gemeinsamen Weg zu finden«, fügte er hinzu. In Bezug auf die Regierung wünsche er sich, eine faire Beziehung zu entwickeln, die auf gegenseitigem Respekt und Verständnis beruht, auch wenn Konflikte zu erwarten seien.

Mit diesen Worten deutete der frisch gewählte Mazsihisz-Chef auf die inneren Spannungen und die Angriffe von außen, gegen welche die Organisation in letzter Zeit zu kämpfen hatte. Hitzige Debatten, Diskreditierungsversuche und ein gespaltenes Rabbinat erschüttern seit Jahren die größte jüdische Religionsgemeinschaft im Land.

Mit einem harschen Briefwechsel zwischen András Heisler und dem damaligen Rabbinatspräsidenten Tamás Róna begann die Serie von Konflikten, die mit Rónas Entlassung endete. Aus Protest gegen die »unerträgliche Atmosphäre« nahmen danach weitere Rabbiner ihren Hut.

Die Lage ist seitdem weiterhin nicht ganz klar, denn obwohl Róna eine neue neologe Organisation, die Jüdische Gebetsgemeinschaft Ungarns, gegründet hat, sieht er sich weiterhin auch als Rabbinatsvorsitzender von Mazsihisz. Zudem ist er Rabbiner der Gemeinde in Kecskemét, deren Vorsitzender der neugewählte Mazsi­hisz-Präsident Andor Grósz ist.

REGIERUNG Grószʼ Vorgänger Heisler prangerte die Regierung oft scharf an, zum Beispiel wenn es um die ständigen Anfeindungen des ungarischstämmigen jüdischen Philanthropen George Soros ging, die Auszeichnung mehrerer judenfeindlicher Prominenter oder die Begnadigung eines rechtskräftig verurteilten rechtsextremen, antisemitischen Kriminellen.

Aus diesem Grund begünstigt Ministerpräsident Viktor Orbán seit Jahren den ungarischen Ableger von Chabad, die Einheitliche Ungarische Israelitische Glaubensgemeinschaft (EMIH). Die kleine, lautstarke Körperschaft unterstützt im Gegenzug die Regierung und schweigt häufig zu antisemitischen Vorfällen. EMIH versuchte in den vergangenen Jahren immer wieder, die Position und die Ressourcen von Mazsihisz zu erlangen, und ihr Chef, Chabad-Rabbiner Slomó Köves, attackierte Heisler, wann immer sich die Gelegenheit bot.

In diesem Zusammenhang sagte Grósz: »Ich werde mich bemühen, eine Beziehung des gegenseitigen Verständnisses mit allen jüdischen Gemeinden zu pflegen. Die Interessen von Mazsihisz und des neologischen Judentums haben für mich jedoch Priorität, und dem werde ich nicht nachgeben.«

Kein Wort verlor Grósz in der Öffentlichkeit über die vielen Errungenschaften unter seinem Vorgänger, wie die Erweiterung des jüdischen Krankenhauses in Budapest, die Sanierung von Synagogen, die Projekte zur Restaurierung von Friedhöfen, die Verbesserung des Sozialsystems, das Krisenmanagement während der Covid-Pandemie oder die Unterstützung von Kriegsflüchtlingen aus der benachbarten Ukraine.

Wie Grósz die von ihm angestrebte Befriedung erreichen will, wird sich zeigen. Helfen wird ihm bestimmt, dass er offenbar gute Beziehungen ins Kabinett hat. Ohne diese hätte er seine früheren hohen Ämter in der Armee kaum bekleiden können, und eine der bedeutendsten Auszeichnungen des Landes, das Ungarische Mittlere Verdienstkreuz, hätte er im Jahr 2014 wohl auch nicht erhalten.

Auf jeden Fall möchte er dem Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, gerecht werden. »Ich will niemanden enttäuschen«, versprach er kurz nach der Wahl.

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