Die argentinische Regierung hat in großem Umfang offizielle Dokumente des nationalen Generalarchivs, die bisher unter das Staatsgeheimnis fielen, veröffentlicht. 80 Jahre nach Ende der Schoa lassen sich nun die Spuren von Nazi-Verbrechern wie Adolf Eichmann, Josef Mengele und Erich Priebke nach Südamerika verfolgen – auf der sogenannten Rattenlinie. Die rund 1850 Dokumente sind nun für jedermann online einsehbar.
Argentinien hatte nach Ende des Zweiten Weltkriegs als sicherer Hafen für deutsche Nazis traurige Berühmtheit erlangt. SS-Angehörige, Kollaborateure und Völkermörder setzten sich nach Südamerika ab, um der Strafverfolgung in Europa zu entgehen. Viele gelangten über Italien nach Argentinien. Bei der Flucht spielten das Rote Kreuz, der Vatikan und die argentinische Regierung eine wichtige Rolle. Eichmann, Organisator der industriellen Vernichtung der europäischen Juden, floh über Südtirol.
Ein Dokument, das am 1. Juni 1950 vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf ausgestellt wurde, machte aus ihm den staatenlosen Techniker Ricardo Klement aus Bozen. Es trägt den Stempel des argentinischen Konsulats in Genua. Argentiniens damaliger Präsident Juan Domingo Perón gewährte bewusst hochrangigen Nazis Unterschlupf und hielt seine schützende Hand über sie. Anstellung fanden die Neuankömmlinge nicht selten bei deutschen Firmen. Eichmann arbeitete bei Mercedes-Benz, Auschwitz-»Arzt« Mengele bei Orbis, einem Unternehmen mit deutschem Gründer, SS-Mann Walter Kutschmann bei Osram.
Die freigegebenen Akten enthalten Aufzeichnungen über Bankgeschäfte, Geheimdienstdokumente und vertrauliche Berichte des Verteidigungsministeriums, die zeigen, wie die Nazis sich in Argentinien ansiedeln konnten. Auch finden sich Einzelheiten zu Ermittlungen, die zwischen den 50er- und 80er-Jahren von der Bundespolizei, den Nachrichtendiensten und der für den Grenzschutz zuständigen Nationalen Gendarmerie durchgeführt wurden, sowie vertrauliche Präsidialdekrete aus den Jahren 1957 bis 2005. Historiker schätzen, dass etwa 5000 Nazi-Kriegsverbrecher in Argentinien Zuflucht fanden.
Sogenanntes Nazi-Gold
Bereits im Februar hatte die Regierung des derzeitigen Präsidenten Javier Milei gegenüber Vertretern des Simon Wiesenthal Center versprochen, Archive zu öffnen, die Hinweise auf argentinische Verbindungen zum sogenannten Nazi-Gold liefern. Dabei geht es um von europäischen Juden gestohlenes Geld, das nach Argentinien transferiert und mutmaßlich teilweise über die Schweizer Bank Credit Suisse (heute UBS) gewaschen wurde. Ende April kündigte die Regierung dann an, dass sie auch Dokumente über in Argentinien untergetauchte Nazis freigeben werde. »Der argentinische Staat hat keinen Grund, diese Informationen weiterhin zu schützen«, sagte Mileis Kabinettschef Guillermo Francos.
Die anfängliche Straffreiheit der Kriegsverbrecher wird in den Dokumenten mehr als deutlich. Laut seiner Polizeiakte beantragte Mengele, der unter falschem Namen lebte, am 26. November 1956 einen neuen Personalausweis, »anlässlich der Berichtigung seines Vor- und Nachnamens«. Mit seiner wiederhergestellten Identität lebte er unbehelligt in Argentinien. Ein Auslieferungsersuchen aus Deutschland lehnten die argentinischen Behörden seinerzeit ab. Mengele ging später nach Paraguay und Brasilien, wo er 1979 unter falscher Identität starb.
Eichmann lebte jahrelang im Norden von Buenos Aires
Viele Nazis lebten lange unbehelligt, darunter auch »der Schlächter von Riga«, Ghetto-Kommandant Eduard Roschmann. Eichmann wiederum lebte jahrelang in einem Haus im Norden von Buenos Aires, wie die Akten zeigen. Er ahnte nicht, dass der Mossad ihn aufgespürt hatte. Ein Kommando entführte ihn bekanntermaßen im Mai 1960 heimlich nach Tel Aviv. Die Operation wurde von Mitgliedern der argentinischen Sicherheitskräfte unterstützt, wie aus freigegebenen Dokumenten hervorgeht.
Der nun freie Zugang zu diesen historischen Informationen ermöglicht es Forschern und der Öffentlichkeit, neues Licht auf die ganz Südamerika umspannenden Fluchtnetzwerke zu werfen.