Argentinien

Die Rattenlinie wird sichtbar

Josef Mengele lebte offen unter seinem Namen. Foto: picture alliance / Heritage-Images

Argentinien

Die Rattenlinie wird sichtbar

Die Regierung in Buenos Aires öffnet Archive mit Geheimakten – und legt das Ausmaß der Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher offen

von Andreas Knobloch  26.05.2025 21:21 Uhr

Die argentinische Regierung hat in großem Umfang offizielle Dokumente des nationalen Generalarchivs, die bisher unter das Staatsgeheimnis fielen, veröffentlicht. 80 Jahre nach Ende der Schoa lassen sich nun die Spuren von Nazi-Verbrechern wie Adolf Eichmann, Josef Mengele und Erich Priebke nach Südamerika verfolgen – auf der sogenannten Rattenlinie. Die rund 1850 Dokumente sind nun für jedermann online einsehbar.

Argentinien hatte nach Ende des Zweiten Weltkriegs als sicherer Hafen für deutsche Nazis traurige Berühmtheit erlangt. SS-Angehörige, Kollaborateure und Völkermörder setzten sich nach Südamerika ab, um der Strafverfolgung in Europa zu entgehen. Viele gelangten über Italien nach Argentinien. Bei der Flucht spielten das Rote Kreuz, der Vatikan und die argentinische Regierung eine wichtige Rolle. Eichmann, Organisator der industriellen Vernichtung der europäischen Juden, floh über Südtirol.

Lesen Sie auch

Ein Dokument, das am 1. Juni 1950 vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf ausgestellt wurde, machte aus ihm den staatenlosen Techniker Ricardo Klement aus Bozen. Es trägt den Stempel des argentinischen Konsulats in Genua. Argentiniens damaliger Präsident Juan Domingo Perón gewährte bewusst hochrangigen Nazis Unterschlupf und hielt seine schützende Hand über sie. Anstellung fanden die Neuankömmlinge nicht selten bei deutschen Firmen. Eichmann arbeitete bei Mercedes-Benz, Auschwitz-»Arzt« Mengele bei Orbis, einem Unternehmen mit deutschem Gründer, SS-Mann Walter Kutschmann bei Osram.

Die freigegebenen Akten enthalten Aufzeichnungen über Bankgeschäfte, Geheimdienstdokumente und vertrauliche Berichte des Verteidigungsministeriums, die zeigen, wie die Nazis sich in Argentinien ansiedeln konnten. Auch finden sich Einzelheiten zu Ermittlungen, die zwischen den 50er- und 80er-Jahren von der Bundespolizei, den Nachrichtendiensten und der für den Grenzschutz zuständigen Nationalen Gendarmerie durchgeführt wurden, sowie vertrauliche Präsidialdekrete aus den Jahren 1957 bis 2005. Historiker schätzen, dass etwa 5000 Nazi-Kriegsverbrecher in Argentinien Zuflucht fanden.

Sogenanntes Nazi-Gold

Bereits im Februar hatte die Regierung des derzeitigen Präsidenten Javier Milei gegenüber Vertretern des Simon Wiesenthal Center versprochen, Archive zu öffnen, die Hinweise auf argentinische Verbindungen zum sogenannten Nazi-Gold liefern. Dabei geht es um von europäischen Juden gestohlenes Geld, das nach Argentinien transferiert und mutmaßlich teilweise über die Schweizer Bank Credit Suisse (heute UBS) gewaschen wurde. Ende April kündigte die Regierung dann an, dass sie auch Dokumente über in Argentinien untergetauchte Nazis freigeben werde. »Der argentinische Staat hat keinen Grund, diese Informationen weiterhin zu schützen«, sagte Mileis Kabinettschef Guillermo Francos.

Die anfängliche Straffreiheit der Kriegsverbrecher wird in den Dokumenten mehr als deutlich. Laut seiner Polizeiakte beantragte Mengele, der unter falschem Namen lebte, am 26. November 1956 einen neuen Personalausweis, »anlässlich der Berichtigung seines Vor- und Nachnamens«. Mit seiner wiederhergestellten Identität lebte er unbehelligt in Argentinien. Ein Auslieferungsersuchen aus Deutschland lehnten die argentinischen Behörden seinerzeit ab. Mengele ging später nach Paraguay und Brasilien, wo er 1979 unter falscher Identität starb.

Eichmann lebte jahrelang im Norden von Buenos Aires

Viele Nazis lebten lange unbehelligt, darunter auch »der Schlächter von Riga«, Ghetto-Kommandant Eduard Roschmann. Eichmann wiederum lebte jahrelang in einem Haus im Norden von Buenos Aires, wie die Akten zeigen. Er ahnte nicht, dass der Mossad ihn aufgespürt hatte. Ein Kommando entführte ihn bekanntermaßen im Mai 1960 heimlich nach Tel Aviv. Die Operation wurde von Mitgliedern der argentinischen Sicherheitskräfte unterstützt, wie aus freigegebenen Dokumenten hervorgeht.

Der nun freie Zugang zu diesen historischen Informationen ermöglicht es Forschern und der Öffentlichkeit, neues Licht auf die ganz Südamerika umspannenden Fluchtnetzwerke zu werfen.

Stockholm

Wirtschaftsnobelpreis geht auch an jüdischen Ökonom

Joel Mokyr, Philippe Aghion und Peter Howitt werden für ihre Forschung zu nachhaltigem Wachstum geehrt

 13.10.2025

Kommentar

Kein Wunder in Bern

Bei gewaltbereiten Demonstrationen in der Schweizer Bundeshauptstadt hat sich ein Teil der Palästina-Solidarität einmal mehr selbst entlarvt: Es ging nie darum, das Leid im Gazastreifen zu beenden oder einen angeblichen Genozid zu stoppen

 12.10.2025

Malibu

Kiss-Sänger Gene Simmons bei Unfall verletzt

Der 76-Jährige soll hinter dem Steuer das Bewusstsein verloren haben

 10.10.2025

Meinung

Außen hui, innen pfui: Trumps Umgang mit den Juden

Während sich der US-Präsident um die Juden in Israel verdient macht, leidet die jüdische Gemeinschaft im eigenen Land unter seiner autoritären Innenpolitik. Das sollte bei aller Euphorie über den Gaza-Deal nicht vergessen werden

von Joshua Schultheis  09.10.2025

Literatur

Nobelpreis für Literatur geht an László Krasznahorkai

Die Literaturwelt blickt erneut gebannt nach Stockholm. Dort entscheidet man sich diesmal für einen großen Schriftsteller aus Ungarn - und bleibt einem Muster der vergangenen Jahre treu

von Steffen Trumpf  09.10.2025

Italien

»Mein Sohn will nicht mehr Levy heißen«

Wie ist es in diesen Tagen, Jude in einer europäischen Metropole zu sein? Ein Besuch bei Künstler Gabriele Levy im jüdischen Viertel von Rom

von Nina Schmedding  06.10.2025

Großbritannien

Empörung über Israels Einladung an Rechtsextremisten

Jüdische Verbände und Kommentatoren in Großbritannien sind entsetzt, dass Diasporaminister Chikli und Knesset-Sprecher Ohana ausgerechnet nach dem Anschlag von Manchester einen rechten Agitatoren hofieren

von Michael Thaidigsmann  06.10.2025

Türkei

»Zionist«: Robbie-Williams-Konzert in Istanbul am 7. Oktober abgesagt

Die Stadt verweist auf Sicherheitsbedenken – zuvor gab es online massive Proteste wegen jüdischer Familienbezüge des Musikers

 05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025