Ukraine-Krieg

»Die Einheit war fühlbar«

Es ist ein Tag nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Am späten Nachmittag war ich in Polen gelandet. Eine Woche wollte ich bleiben. So schnell als möglich zur ukrainischen Grenze – immer im Hinterkopf, noch vor einer Ausgangssperre nach Lwiw zu gelangen.

Nachdem wir einige Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatten und schon dachten, dass wir die ganze Nacht unterwegs sein würden, besorgte uns ein englischer Fotograf, den wir zuvor getroffen hatten, eine Mitfahrgelegenheit in einem Polizeiauto, sodass wir sicher nach Lwiw kamen – weit nach der Ausgangssperre.

Autos Das Bild, das sich mir schon an der Grenze bot, war chaotisch: eine 45 Kilometer lange Schlange wartender Autos, wartender Menschen, auch Nichtukrainer. Menschen aus Afrika, aus Asien. Sie durften zu diesem Zeitpunkt nicht die Grenze passieren. Die Masse der Menschen, die aus der Ukraine flieht, war schockierend. In Lwiw selbst lag Vorbereitung in der Luft: Der Front sollte geholfen werden.

Menschen bauten Molotowcocktails, um sie an die Front zu schicken, und in den vergangenen Tagen wuchs die Anspannung so, als wäre die Stadt die nächste Front. Plötzlich lagen Sandsäcke vor Eingängen, ein Museum schützte seine Fenster. Die Straßen waren leer, viele Geschäfte waren geschlossen. Supermärkte und Cafés waren geöffnet, alles, was nicht unmittelbar wichtig war, hatte zu.

Die Solidarität und Einheit in der Stadt war fühlbar. Einige sagten, dass es schon immer so war, andere sagten, dass es durch den Krieg so gekommen ist. Auch was Selenskyj angeht, habe ich mehr als einmal und mehr als zweimal gehört, dass auch die, die ihn vielleicht vorher nicht so sehr mochten, ihn nun unterstützten. Er kennt die Ukrainerinnen und Ukrainer. Und er weiß, wie sie fühlen und denken, er kann sie einen.

Die Synagoge, die ich in Lwiw fotografierte, war vor dem Zweiten Weltkrieg in Benutzung. Vor ein paar Jahren brach das Dach unter dem Schnee zusammen.

Die Synagoge, die ich in Lwiw fotografierte, war vor dem Zweiten Weltkrieg in Benutzung. Vor ein paar Jahren brach das Dach unter dem Schnee zusammen. Die Leute der jüdischen Gemeinde haben jetzt schnell reagiert und sie so hergerichtet, dass sie Flüchtlingen Schutz geben kann. Es war irgendwie bittersüß, inmitten von den gefüllten Säcken und dem Holz diese alten Schilder zu sehen: eine Illustration eines eng umschlungenen Pärchens, und darüber steht »Masl tow«.

Kinder Ich wollte auch mit einem Chabad-Rabbiner und seiner Frau sprechen, aber sie mussten sich um ihre Kinder kümmern, die sie wegschickten. In Lwiw waren auch viele Israelis, die mit Bussen vom israelischen Außenministerium herausgebracht wurden.

Dass die Flüchtlinge in Europa so aufgenommen werden, hat sicherlich auch damit zu tun, dass dieser Krieg mitten in Europa ist. Es gibt viele Geflüchtete – wenn wir nur an die vergangenen Jahre denken –, deren Weg nach Europa auch schwierig war. Ich wünschte, die Welt würde alle Geflüchtete mit so offenen Armen empfangen.

Für mich als Fotograf ist es wichtig, mit dem mentalen Jetlag bewusst umzugehen. Plötzlich ist man wieder im normalen Leben. Hatte ich eben noch Flüchtlinge an der Grenze gesehen, waren es im anderen Augenblick Leute im Café in Warschau. Die Welt hört sich nicht auf zu drehen, weil ein Krieg ist.

Mitten in Warschau sah ich einen Bus voller Frauen und Kinder, die aus der Ukraine kamen. Ich dachte: Wie muss es für sie sein? Sie haben alles zurückgelassen. Sie haben ihr Leben aufgegeben. Wie wird ihr neues Leben aussehen, wenn sie aus diesem Bus aussteigen?

Tomer Appelbaum ist Fotojournalist und hat am »Hadassah College« in Jerusalem Fotografie studiert. Für seine Arbeiten ist er unter anderem mit dem Siena International Photo Award ausgezeichnet worden. Er lebt in Tel Aviv.

München

Europäische Rabbiner sagen Baku-Konferenz aus Sicherheitsgründen ab

Rund 600 Teilnehmer aus aller Welt sind angemeldet. Viel Geld war in die Vorbereitung geflossen

von Imanuel Marcus, Mascha Malburg  28.10.2025 Aktualisiert

Meinung

Antisemitismus der Anständigen

Judenhass in der Schweiz ist brandgefährlich, weil er so höflich und diskret daherkommt

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.10.2025

Meinung

Die SP im moralischen Blindflug

Mit zwei widersprüchlichen Resolutionen beweist die Sozialdemokratische Partei der Schweiz einmal mehr ihre ethische Orientierungslosigkeit

von Nicole Dreyfus  27.10.2025

USA

Der reichste Mann der Welt – für einen Tag

Larry Ellison gehört zu den Großen des Silicon Valley und hält Künstliche Intelligenz für die wichtigste Erfindung der Menschheit

von Sara Pines  26.10.2025

Nachruf

Letzter Kämpfer des Aufstands des Warschauer Ghettos gestorben

Michael Smuss wurde 99 Jahre alt

 24.10.2025

Wien

Nobelpreisträger warnt vor technischer Abhängigkeit von den USA

Joseph E. Stiglitz kritisiert Präsident Trump und ruft Wissenschaft und Medien zur Verteidigung der Medienfreiheit weltweit auf

von Steffen Grimberg  24.10.2025

Polen

Antisemitische Hetzer verhindern Konzert jüdischer Musiker

Der Chor der Pestalozzi-Synagoge in Berlin war eingeladen, in Września gemeinsam mit dem dortigen Kinderchor den Komponisten Louis Lewandowski zu ehren. Nach Hetze und Drohungen wurden alle Veranstaltungen abgesagt

von Sophie Albers Ben Chamo  23.10.2025

Großbritannien

Jiddisch verbindet

Zwischen Identitätssuche, Grammatik und Klezfest. Unsere Autorin war beim Sprachkurs »Ot Azoy« in London

von Sabine Schereck  23.10.2025

Rabbiner Noam Hertig aus Zürich

Diaspora

Es geht nur zusammen

Wie wir den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft bewahren können – über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg

von Rabbiner Noam Hertig  23.10.2025