Polen

Design aus dem Schtetl

Auf dem Schild des Designstudios mitten in Warschaus boomender City steht »Mi Polin« – daneben die Übersetzung der hebräischen Wörter: »Aus Polen«. Die Adresse könnte kaum besser sein: Nowy Swiat – die Neue Welt ist Warschaus größte Flaniermeile mit edlen Boutiquen, Juweliers und Cafés.

Doch um zu Helena Czernek und Aleksander Prugar zu kommen, muss man erst durch einen Torbogen treten, dann eine herrschaftliche Treppe bis zur Beletage hinaufgehen – und dann noch eine kleine Hinterhoftreppe, die in den zweiten Stock führt.

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Helena lacht, als sie die Tür öffnet und den Firmensitz mit den inzwischen weltweiten Handelsbeziehungen zeigt. »Wir suchen nach einem Showroom in ähnlich guter Lage, hier in Warschau, in dem wir vor allem unsere Mesusot-Sammlung zeigen können«, sagt die 34-Jährige. »Aber es eilt nicht«, der polnische Markt sei nicht groß, »unsere Kunden kommen vor allem aus Israel und den USA.«

MENOKKIA Auf einem dunkelbraunen Schrank stehen mehrere Leuchter, darunter eine klassische Silber-Menora mit Kerzen und eine dreiteilige Öllampe aus weißer Keramik. Mit dieser »Menokkia« – einer Kombination aus Menora und Chanukkia – fing alles an. Bis heute ist sie das Markenzeichen von Mi Polin.

»Meine Mutter gab den Anstoß dazu«, erzählt Helena. »Als ich an der Kunsthochschule hier in Warschau Design studierte und in der Keramikwerkstatt eine Studienarbeit abgeben sollte, meinte meine Mutter: ›Bald ist Chanukka – kannst du uns nicht einen schönen Leuchter entwerfen?‹«

Obwohl Helena als Kind immer wusste, dass sie jüdisch ist, spielte das Judentum für sie lange keine große Rolle. »Wir lebten auf dem Dorf, da gab es außer uns keine anderen Juden.« Doch als sie zum Studium nach Warschau ging, tat sich für sie eine völlig neue Welt auf: »Ich trat in den Jüdischen Studentenbund ein, wohnte vier Jahre lang im Moishe House für junge polnische Juden und studierte dann auch ein Jahr lang Design an der Bezalel-Akademie in Jerusalem.

Nachdem ihre Mutter den Wunsch geäußert hatte, einen Chanukkaleuchter zu haben, fing Helena an, sich mit jüdischen Festen zu beschäftigen – und mit der Frage, ob Tora und Talmud ein bestimmtes Material für die Leuchter vorschreiben.

»Unsere Menokkia vereint in sich drei Leuchter: die siebenarmige Menora, die beiden Schabbatleuchter und die Chanukkia.« In der Mitte des Leuchters ist ein herausnehmbarer Schamasch platziert.

BUSINESSPLAN Die zierliche junge Frau streicht sich eine Strähne aus der Stirn und deutet auf ihren Geschäftspartner Aleksander.

Der 35-jährige Soziologe und Fotoreporter wippt schon ungeduldig auf seinem Stuhl: »Als ich Helena kennenlernte, steckte ich noch mitten im Studium an der Filmhochschule in Lodz.«

Aus der Bekanntschaft wurde Liebe. Aleksander entwickelte einen Businessplan für die Menokkia, und im Nu waren die ersten 50 Leuchter in den Farbvariationen weiß-gold, weiß-silber, schlicht weiß und schwarz verkauft. »Wir sind damals viel gereist«, erzählt Aleksander. »Dabei entdeckten wir, dass uns Ähnliches auffiel und wir rasch zu einem gemeinsamen Urteil kommen konnten.« Und so wurden die beiden ein Paar – für sechs Jahre. Heute sind sie gute Freunde und Geschäftspartner.

Helena steht auf, deutet auf die alten hölzernen Türpfosten, die an den weiß getünchten Studiowänden lehnen, und erzählt: »Ich war dann einmal in Kazimierz, dem ehemaligen jüdischen Viertel von Krakau, und entdeckte dort in einer alten Tür eine Einkerbung. Da war mir sofort klar, dass dort einmal eine Mesusa befestigt gewesen sein musste.«

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»Und da haben wir«, sagt Aleksander, »ich in Warschau und sie in Krakau, die Idee entwickelt, wie man diese letzten Spuren jüdischen Lebens aus der Vorkriegszeit verewigen könnte, bevor sie für immer verschwinden.«

SPUREN Sieben Mesusa-Spuren wollten sie in Krakau, Warschau und Lodz finden, in Bronze ausgießen und als neue Mesusa mit der alten Adresse anbieten, um so eine lebendige Verbindung von gestern und heute zu schaffen.

Aleksander streicht sich über seinen 14-Tage-Bart und setzt, mit ein wenig Stolz, hinzu: »Inzwischen haben wir in Polen, Weißrussland, Rumänien und der Ukraine fast 140 Mesusa-Spuren entdeckt. Die Nachfrage hat unsere Erwartungen übertroffen.«

Viele Nachkommen polnischer Juden, die heute verstreut in der ganzen Welt leben, möchten gern so ein Zeugnis aus dem Schtetl ihrer Eltern oder Großeltern haben. Wenn nicht vom eigenen Haus, so doch zumindest aus dem Ort.

FORSCHUNGEN Helena kommt aus dem Nebenraum zurück. In der Hand hält sie zwei Broschüren und eine schwere Bronze-Mesusa. »Zu jeder Spur, die wir finden, betreiben wir Forschungen: Wer wohnte dort früher? Was geschah während des Krieges? Überlebte jemand die Schoa und wanderte danach ins Ausland aus?«

Da die kleine Firma das finanziell nicht stemmen konnte, gründeten die beiden eine Stiftung, die ebenfalls »Mi Polin« heißt. Sie kann Zuschüsse und Stipendien für Forschung und Bildungsprojekte beantragen.

Es begann damit, dass sie eine Einkerbung im Türrahmen entdeckten.

Helena zeigt die Broschüre zur Mesusa-Spur in der Wilczynski-Straße in Sokolow Podlaski bei Warschau. Auf dem Titelbild sind vier Mülltonnen zu sehen, neben denen zwei alte Holztüren und ein Fenster lehnen. Auf dem Boden liegen die ehemaligen Türpfosten. An einem ist ganz deutlich die Einkerbung für die Mesusa zu sehen.

»Das war ein ganz besonders dramatischer Fall«, sagt Helena. »Wir waren am Sonntagmorgen mit einer Freundin verabredet, die uns diese Spur zeigen wollte, sodass wir den Silikonabdruck nehmen konnten. Doch ich wollte am Samstag auf eine Hochzeit gehen und eigentlich bis in den Morgen durchtanzen.« Aleksander nickt. »Wir haben uns fürchterlich gestritten, denn bei dieser Spurensuche rennen wir doch gegen die Zeit an. Heute ist die Spur noch da, und morgen nicht mehr. Dann ist sie für immer verloren.«

SPERRMÜLL Am Ende fuhren die beiden doch, wie zuvor verabredet, nach Sokolow Podlaski, trafen sich mit der Freundin – und fanden das Haus eingerüstet vor. Türen und Fenster waren bereits ausgetauscht. »Wir gingen um das Haus herum«, erzählt Helena. »Und neben den Mülltonnen lag der Türpfosten mit der Mesusa-Spur. Am Montag sollte er als Sperrmüll abgeholt werden. Wir waren also in letzter Minute da gewesen. Das hat mich dann endgültig davon überzeugt, dass wir weitersuchen und die Spuren retten müssen, solange sie noch da sind.«

Zu Beginn des Projekts »Mesusa aus diesem Haus« hatten die beiden das Klaf, das beschriftete, koschere Pergament, für die neuen Mesusot in Israel bestellt. Doch die Zusammenarbeit gestaltete sich schwierig. So muss sich heute jeder, der eine alt-neue Mesusa am Türrahmen befestigen will, das Klaf selbst besorgen.

Aleksander blättert die kleine Broschüre mit aktuellen und historischen Fotos auf. »Hier sieht man mich, wie ich den alten Türpfosten mit dem Fahrrad abtransportiere.« Er deutet auf ein anderes Foto. »Dieses Bild hier wurde während der Okkupationszeit aufgenommen. Die Juden vor dem Haus in der Wilczynski-Straße tragen die weiße Armbinde mit dem blauen Davidstern.«

Er blättert weiter. »Und hier sehen wir auf den beiden Fotos die historische Laubhütte, die im ersten Stock zum Hof hin gebaut worden war.« Das Bild daneben dokumentiert den Zustand nach der Renovierung des Haues: Zu sehen ist ein einfaches Zimmer, dessen Außenwände genauso verputzt sind wie das ganze Haus. Wenn man es nicht weiß, erkennt man die frühere Laubhütte nicht mehr.

BRONZE Das letzte Bild in der Broschüre zeigt die auf 1500 Grad Celsius erhitzte Bronze, wie sie goldgelb in die Gussform der alt-neuen Mesusa fließt. Jede einzelne Mesusa stellen Helena und Aleksander von Anfang bis Ende in Handarbeit her. Das erklärt dann auch die stolzen Preise, die zwischen 250 und 500 Dollar pro Stück liegen. »So eine Bronze-Mesusa mit einer konkreten Vorkriegsadresse ist ein einmaliger Kauf und hält ewig«, wendet Aleksander ein.

Helena holt den aufwendig gestalteten Hauptkatalog aus dem Nebenzimmer und blättert die Seiten mit den modernen Mesusot und den anderen Judaica auf.

»Was mir wichtig ist: Ich beachte in meinem Design Hiddur Mizwa, das Prinzip, rituelle Kultgegenstände aus bestem Material und in bester Verarbeitung herzustellen. Sie sollen schön anzusehen und angenehm zu berühren sein. Ihre Benutzung soll Freude machen und dem jeweiligen jüdischen Fest eine besondere Note verleihen.«

Aleksander nickt. »Die Palette ist wirklich sehr breit. Es müsste eigentlich für jeden etwas dabei sein, auch für diejenigen mit kleinerem Geldbeutel.«

SCHMUCK Die Sonne wirft einen langen Strahl ins Studio und lässt in einer Glasvitrine Gold und Silber aufblitzen. »Der Schmuck!«, ruft Helena. »Wie konnte ich den nur vergessen!« Sie beugt sich leicht vor und zeigt eine Kette aus der Serie »Der biblische Garten«. Das filigrane Chamsa-Amulett besteht aus zwei übereinanderliegenden offenen Händen aus Gold und Silber, die Öl- und Palmzweige, einen Granatapfel sowie Weintrauben halten.

Eine andere Serie heißt »Die sieben Tage der Schöpfung«, beginnt mit dem der Scheidung von Tag und Nacht, geht weiter über die Erschaffung der Tiere und des Menschen bis zum siebten Tag, dem Schabbat. Als Modelle für den Schmuck ließen sich jüdische Frauen aus Polen fotografieren. »Meine guten Freundinnen«, sagt Helena.

Sie berührt den Anhänger an ihrem Hals und strahlt. »Mi Polin war die beste Idee meines Lebens!« Dann deutet sie auf Aleksander und auf sich: »Wir sind zwar seit drei Jahren kein Paar mehr, aber unser Baby – Mi Polin – wächst und gedeiht.«

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