In Mailand kennt man ihn als den Künstler ohne Gesicht. Die Murals des Straßenkünstlers und Aktivisten AleXsandro Palombo erscheinen über Nacht auf Hauswänden: anonyme Auftritte, provokante Bildsprache – und eine klare politische Haltung. Man weiß nicht viel über seine Person, doch seit dem 7. Oktober 2023 sorgen einige seiner Werke immer wieder für Schlagzeilen.
Denn seine Arbeiten werden immer wieder beschädigt, überklebt und übermalt. Zuletzt passierte das zum zweiten Jahrestag der Hamas-Massaker in Israel: Vor dem Konsulat von Katar, mitten in Mailand, entstand ein Wandbild mit dem Titel »October 7 – The Hostages«. Das Werk zeigt Shiri Bibas mit ihren rothaarigen Söhnen Kfir und Ariel, die an diesem Tag des Horrors im Jahr 2023 von den Hamas-Terroristen aus dem Kibbuz Nir Oz verschleppt und später ermordet wurden.
Nur wenige Tage später wurde der Kopf Shiris mit einem Papier überklebt, das ein Kindergesicht im Fadenkreuz zeigt: den Mund zum Schrei aufgerissen, darüber der Schriftzug »No War«. Ein Eingriff, der Empathie in Anklage verwandelte.
Flucht vor dem Terror zwischen zerstückelten Teddybären
Zum ersten Jahrestag des Hamas-Massakers auf dem Nova-Festival schuf Palombo »October 7, Escape«, das die Überlebende Vlada Patapov auf der Flucht vor dem Terror zwischen zerstückelten Teddybären zeigt. Schon kurz nach der Enthüllung hatten Unbekannte den Kopf und ein Bein des Bildes der Überlebenden übermalt.
Im November 2023, nur wenige Wochen nach dem Hamas-Angriff, waren in Mailand zwei Murals aufgetaucht mit dem Titel »Innocence, Hate and Hope«. Das eine zeigte Anne Frank in Häftlingskleidung mit einer israelischen Fahne neben einem palästinensischen Mädchen, das eine Hamas-Flagge verbrennt. Das andere war sein Stencil des berühmten Fotos des Jungen im Warschauer Ghetto, den Palombo zwischen zwei Hamas-Terroristen, einem Kind und einem Erwachsenen positioniert hatte. Beide Werke wurden binnen Stunden angegriffen: Anne Frank wurde mit der Parole »Free Gaza« übermalt. Beim anderen wurde der jüdische Junge entfernt, während die Terroristen unversehrt blieben.
Die Erinnerung selbst ist zum Angriffsziel geworden.
Palombo, der sich auch aus Sicherheitsgründen nur selten öffentlich äußert, kommentierte die Angriffe auf seine Kunst schriftlich für die »Jüdische Allgemeine«: »Diese Werke wurden nicht einfach beschädigt, sondern waren Gegenstand regelrechter Akte eines Kultur-Terrorismus.« Er spricht von einem kulturellen Klima, »das nicht nur Intoleranz toleriert, sondern Verunglimpfungen normalisiert, Zensur legitimiert und das Andenken der Opfer angreift, um ihren menschlichen und historischen Wert zu leugnen«.
Dass es nicht nur Werke trifft, die den 7. Oktober und den daraus resultierenden Krieg in Gaza thematisieren, zeige für ihn, dass die Erinnerung selbst zum Angriffsziel geworden ist. »Es ist das Zeichen einer kulturellen Entwicklung, die darauf abzielt, Erinnerungen auszulöschen, Geschichte zu verfälschen und Schmerz zu entweihen. Es ist das Zeichen einer Gesellschaft, die dem Blick der Wahrheit nicht mehr standhalten kann«, schreibt Palombo.
Murals zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar
Zu seinen Arbeiten gehören auch Murals zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, die den Überlebenden Liliana Segre, Sami Modiano und Edith Bruck gewidmet sind. Mehrfach wurden sie beschädigt: Gesichter zerkratzt, Davidsterne beschmiert. Mehrere sind heute im Schoa-Museum in Rom zu sehen.
Palombo hat die Themen Israel, Antisemitismus und Erinnerung nicht erst entdeckt, als sie nach dem 7. Oktober in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte rückten. Bereits 2014 prangerte er den Terrorismus der Hamas an. In den Serien »Stop Hamas Terrorism« und »Once Upon a Time the Children of Palestine« stellte er Figuren wie Aladdin und Jasmine als bewaffnete Terroristen dar, die gefesselte Disney-Prinzessinnen bedrohen. Daneben waren Kinderfiguren wie Bart Simpson, Pinocchio oder Peter Pan als Kindersoldaten zu sehen.
Die Bilder entlarven die Indoktrinierung von Kindern durch die Hamas und warnen zugleich vor der Gefahr, dass eine gewalttätige Ideologie auch junge Generationen im Westen infizieren könnte. Eine Botschaft, die angesichts der einseitigen Solidarität mit Gaza und der raschen Übernahme antiwestlicher Narrative durch die globale »Pro-Palästina«-Bewegung nach dem 7. Oktober erschreckend prophetisch wirkt. Palombo bekam schon damals Morddrohungen und wurde zum Opfer von Cyberangriffen: Seine Website wurde gehackt und durch islamistische Parolen ersetzt.
»Ich werde als pro-israelisch bezeichnet, als wäre es ein Vorwurf«
Der Künstler lässt sich bis heute nicht einschüchtern – meidet allerdings konsequent die Öffentlichkeit. Inzwischen gilt er vielen als »pro-israelisch«. Wie steht er selbst zu dieser Zuschreibung? »Ich werde als pro-israelisch bezeichnet, als wäre es ein Vorwurf, ein Dogma, ein Etikett, von dem man sich distanzieren muss.« Es sei paradox, dass die Erinnerung an die Schoa von einigen als verdächtiger Akt wahrgenommen werde, »fast als wäre es eine extremistische Haltung. Aber Erinnern ist keine Propaganda, sondern Verantwortung«.
Für Palombo geht es nicht um politische Parteinahme, sondern um moralische Klarheit. An der Seite Israels zu stehen, das bedeute, »den Wert einer lebendigen, pluralistischen Demokratie anzuerkennen, die wie alle anderen unvollkommen ist, aber auf Freiheit, Bürgerrechten und Teilhabe basiert. Es bedeutet, sich auf die Seite eines Volkes zu stellen, das Verfolgung, Deportation und Vernichtung erlebt hat und noch heute unter der ständigen Bedrohung durch Terror lebt und Ziel eines grassierenden, aggressiven und schamlosen Antisemitismus ist.«
»Erinnern ist keine Propaganda, sondern Verantwortung.«
AleXsandro Palombo
Dass nur Bilder mit israelischem oder jüdischem Bezug attackiert werden, wertet er als Folge eines Zusammenspiels von Antisemitismus, Radikalisierung und digitaler Desinformation, vor allem in den vergangenen zwei Jahren. Palombo verweist auf ein moralisch aufgeheiztes Meinungsklima, das Begriffe wie »Genozid« instrumentalisiere, um Hass gegen Israel und Juden zu legitimieren.
Die Zahlen bestätigen seine Beobachtung: Das Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC) verzeichnete 2024 einen Rekordstand antisemitischer Vorfälle in Italien. Ein Land, das seine Geschichte des Faschismus und vor allem des Antisemitismus nie wirklich aufgearbeitet hat. Der Mythos der »brava gente« (mutigen Bürger), die bequeme Vorstellung, die Judenverfolgung sei von Deutschland »importiert« worden, wirkt bis heute fort. Gleichzeitig hat der Krieg zwischen Israel und der Hamas die politische, mediale und kulturelle Landschaft polarisiert wie selten zuvor.
Offene Feindseligkeit gegenüber der Erinnerung
Ausgerechnet in einem Land, das von einer Partei mit postfaschistischen Wurzeln regiert wird, kommt die offene Feindseligkeit gegenüber der Erinnerung heute nicht von rechts, sondern von jenen, die sich selbst als fortschrittlich begreifen – von Teilen der Linken, der Kulturszene und der Wissenschaft, für die jeder Bezug zu Israel, der nicht das Wort »Genozid« führt, ein Affront ist.
Vor diesem Hintergrund wirken künstlerische Interventionen wie die von AleXsandro Palombo wie ein Stresstest für das kollektive Gedächtnis – auch und gerade für jene Teile der Gesellschaft, die sich bisher immun gegen Schuldabwehr und das Vergessen historischer Verantwortung wähnten.