Antisemitismus

»Das Thema hat oberste Priorität«

Katharina von Schnurbein Foto: Christian Rudnik

Antisemitismus

»Das Thema hat oberste Priorität«

Katharina von Schnurbein über europaweite Initiativen gegen Judenfeindschaft

von Michael Thaidigsmann  24.09.2020 12:02 Uhr

Frau von Schnurbein, trotz eines ganzen Katalogs von Maßnahmen steigt der Antisemitismus europaweit stetig an. Versagt die Politik?
Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni sagte mir einmal scherzhaft, seit ich im Amt sei, also seit 2015, sei der Antisemitismus explodiert. Aber im Ernst: Wir haben eine ganze Reihe von politischen Initiativen auf der europäischen Ebene gestartet, zum Beispiel im Bereich Sicherheit, Bildung, Integration. Mit der IHRA-Definition haben wir ein Instrument, das die verschiedenen Formen des Antisemitismus aufzeigt. Für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat dieses Thema oberste Priorität. Jüdinnen und Juden werden ihre Zukunft nur dann in Europa sehen, wenn sie sich sicher fühlen.

Gerade einmal sieben der 27 EU-Staaten haben in den letzten zwei Jahren Aktionspläne gegen Antisemitismus vorgelegt. Interessiert die anderen das Thema nicht?
Klar ist, dass ich mir flächendeckend in allen EU-Staaten konkrete Initiativen gegen Antisemitismus wünsche, ganz im Sinne der Entschließung von 2018. Die enthält klare Vorgaben und Handlungsanweisungen für alle. Wir können auf europäischer Ebene machen, was wir wollen – ändern wird sich erst etwas, wenn sich staatliche Stellen und Akteure, wenn sich Richter, Polizisten und Schuldirektoren des Themas annehmen. Aber immerhin: Wir treffen uns auf EU-Ebene nunmehr zweimal im Jahr. Alle Mitgliedsstaaten und auch die jeweiligen jüdischen Gemeinden entsenden ihre Vertreter dorthin. Diesen Austausch gab es früher nicht.

Michael O’Flaherty, der Chef der EU-Grundrechteagentur FRA, hat vor Kurzem kritisiert, dass einige EU-Staaten immer noch keine Daten zum Antisemitismus in der Gesellschaft erheben. Ist das nicht ein Armutszeugnis?
Er hat recht. Das Thema wird in der Tat seit vielen Jahren diskutiert. Antisemitismus muss sichtbar gemacht werden, damit das Problem anerkannt wird. Deswegen haben wir unser Juni-Treffen zwischen Mitgliedstaaten und jüdischen Gemeinden der Datenerhebung gewidmet. Korrekte Datenerfassung von antisemitischen Vorfällen ist zudem wichtig, um die Opfer konkret zu unterstützen. Dazu sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet.

In Kürze will die Kommission Pläne präsentieren, um die Regulierung digitaler Dienste und die Haftung von Online-Plattformen zu reformieren. Müssen soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder auch TikTok mit strikteren Regeln nach Art des deutschen NetzDGs rechnen?
2016 hat die EU-Kommission mit den großen Anbietern eine freiwillige Vereinbarung getroffen, wonach binnen 24 Stunden gemeldete Hassrede gelöscht werden muss. Diese ist erfolgreich, insofern als 2016 nur 28 Prozent gelöscht wurden, heute immerhin 71 Prozent. Allerdings wird das wenigste gemeldet, und die Zahl rassistischer und antisemitischer Posts steigt ständig. Während des Lockdowns war das besonders sichtbar. Das gilt auch für Verschwörungsmythen: Wie kurz der Weg von der jüdischen Weltverschwörung zu einem Anschlag ist, haben wir in Halle gesehen. Vor Jahresende werden mit dem »Digital Service Act« die freiwilligen Verpflichtungen deshalb gesetzlich verankert. Als Sofortmaßnahme haben wir gemeinsam mit der UNESCO und dem Jüdischen Weltkongress eine Kampagne auf Twitter zum »Debunking« von Verschwörungsmythen lanciert. Wir haben außerdem vor dem Sommer eine Studie in Auftrag gegeben, die die Strukturen rechtsextremer Gruppierungen im Netz untersucht.

Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft inne. Erfüllt Berlin Ihre Erwartungen?
Es ist gut, dass Deutschland den Antisemitismus auf die Agenda gesetzt hat – trotz Corona – und die Bunderegierung das Thema vorantreibt. Bei der Präsidentschaftskonferenz in Berlin vor zwei Wochen wurde klar, dass der Kampf gegen den Antisemitismus in die Breite der Gesellschaft hineingetragen werden muss. Beispielsweise hat der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle gute Vorschläge gemacht, wie man in Vereinen vor Ort zu diesem Thema mehr sensibilisieren kann.

Was empfinden Sie mit Blick auf den Jahrestag des Anschlags auf die Synagoge in Halle?
Der Schock dieses Anschlags – ausgerechnet an Jom Kippur, ausgerechnet in Deutschland – steckt uns noch in den Gliedern. Ich verfolge den Gerichtsprozess und bin beeindruckt von der Stärke der Zeugen. Es ist wichtig, dass daraus die Lehren gezogen wurden, auch im Hinblick auf den Schutz jüdischer Einrichtungen. Aber Schutz bedeutet mehr als nur Gebäudesicherheit. Wir müssen insgesamt Jüdinnen und Juden besser schützen, auch im Alltagsleben. Und das geht nur, wenn wir jüdisches Leben aktiv fördern. Das ist mindestens genauso wichtig wie der Kampf gegen den Hass.

Mit der Antisemitismusbeauftragten der Europäischen Kommission sprach Michael Thaidigsmann.

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