Grossbritannien

Couscous & Co.

Eine kleine Seitenstraße in der Nähe von Marble Arch im Londoner West End: Um die Ecke gibt es zwei Synagogen, eine liberale und eine orthodoxe, in derselben Straße einen Waschsalon mit arabischer Aufschrift, an der Ecke einen Laden, der wunderschöne Saris mit Seidenmustern und Kopftücher für muslimische Frauen verkauft. Nicht weit davon entfernt befindet sich Edgware Road, jenes Eldorado aller Londoner, die aus dem Nahen Osten stammen.

Es wird kaum Zufall sein, dass gerade hier Michael Daniel sein neuestes Restaurant eröffnet hat. Der Orient gehört wie das Judentum zur Geschichte seiner Familie. Das Restaurant ist modern ausgestattet, dunkelbraune Tische, grüne Sitzpolster, an der Wand hängen gemalte Gemüsebilder.

Michael Daniel ist 39, ein schlanker Mann mit durchdringendem Blick. Beim Sprechen gestikuliert er heftig mit den Händen. Auf dem Tisch vor ihm steht eine Karaffe mit Wasser, in der eine dünne Gurkenscheibe schwebt.

Michael und sein älterer Bruder Adrian sind schon seit Jahrzehnten im Restaurantgeschäft. Sie besitzen heute drei Restaurants, die zu Londons namhaftesten Lokalen gehören, wenn es um vegetarisches Essen geht.

»Eigentlich könnten wir ein Zeichen ans Fenster kleben, dass wir sowohl halal als auch koscher sind«, sagt Michael Daniel mit Blick auf die arabische und jüdische Umgebung. Angefangen hat bei ihm alles mit der Erkenntnis, dass es einfacher ist, sich an die Kaschrut zu halten, wenn man ausschließlich vegetarisch isst.

Herkunft Michael und Adrian sind zwei von sieben Kindern aus einer irakisch-jüdischen Familie. Ihre Großeltern wanderten nach Indien aus und gelangten über Singapur und Burma nach London, wo sie Wurzeln schlugen. Die Familie sei nicht religiös gewesen, aber durchaus der Tradition verbunden, erzählt Michael Daniel.

Die Umstände seiner Kindheit und Jugend beschreibt er als kümmerlich. »Wir waren arm. Meine Mutter kochte oft das Gleiche: Dal mit Reis.« Nur am Schabbat gab es Besseres, meist Hühnchen. Was davon übrig blieb, musste auch noch für die nächsten Tage reichen.

Die Familie lebte im Londoner Stadtteil Hendon. Und obwohl das eine orthodoxe Gegend ist, sagt Daniel, fühlten sie sich dort als sefardische Juden fremd und unverstanden. »Meine Mutter kochte oft irakische Rote-Bete-Suppe. Viele sagten: ›Das ist Borschtsch‹. Aber Borschtsch und irakische Rote-Bete-Suppe sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge!«

Als er mit 16 die Schule verließ, habe er weder richtig lesen noch schreiben können, sagt Daniel offen. Heute weiß er, dass er Dyslexie hat. Orientierungslos verbrachte er die ersten Jahre nach der Schule in verschiedenen Jobs sowie auf einer Jeschiwa in Israel.

Dann baute er sich gemeinsam mit seinem Bruder ein kleines Catering-Unternehmen auf. Doch von einem Tag auf den anderen verloren sie das Recht, die Küche zu nutzen, in der sie alles zubereiteten. Auf der Suche nach einem neuen Ort stießen sie im Westen Londons auf eine Gemeinde der anthroposophischen Christengemeinschaft. Die suchte jemanden, der ihre vegetarische Cafeteria übernehmen würde. »Wir waren naiv. Wir hatten keine Ahnung, was da auf uns zukam.«

Nach ausgiebiger Renovierung – die beiden Brüder machten fast alles allein – eröffneten sie vor versammelter Familie ihr erstes kleines vegetarisches Restaurant. Michael Daniel erinnert sich noch genau an das Datum: Es war Dienstag, der 5. Dezember 1989. Sie nannten das Lokal »The Gate«, nach einem Tor vor dem Gemeindehaus. Konnten sie das Restaurant anfangs weder am Samstagmittag noch am Sonntag öffnen, weil es die Steiner-Gemeinde so wollte, fand man später Kompromisse.

»Alles war improvisiert, wir lernten mit dem Job, verdienten nicht viel, waren aber glücklich.« In der Küche der beiden Brüder wurden sowohl konventionelle englische Speisen als auch ein paar nahöstliche vegetarische Gerichte zubereitet wie beispielsweise eine Kubba aus Couscous und Fetakäse.

Schlüsselmoment Ein Jahr nach der Eröffnung stellten die beiden ihren ersten Koch ein. »Das war ein Schlüsselmoment für uns, denn er arbeitete sehr sauber und ordentlich« – entgegen ihrer eigenen damals noch sehr chaotischen Vorgehensweise. »›Siehst du, so macht man das‹, sagte mein Bruder und gab mir einen Stoß in die Seite.«

Zwischendurch übernahmen die beiden von einem jüdischen Bekannten, der in Ruhestand gegangen war, ein Apfelpastetengeschäft. Nachdem sie am späten Abend ihr Restaurant geschlossen hatten, bereiteten sie in der Nacht Pasteten zu, um sie am Morgen überall in London auszuliefern. »Wir machten Schichtarbeit – eine Nacht Adrian, eine Nacht ich. Doch es laugte uns aus. Nach einiger Zeit gaben wir auf.«

1991 bekamen sie völlig unerwartet den Preis der Zeitschrift »Time Out London« für das beste vegetarische Restaurant in der Stadt. Damit war der Durchbruch geschafft. Ihr Lokal wurde zu einer beliebten Adresse mit immer mehr Stammgästen, »einer Mischung aus Hippies und exzentrischen Londoner Gestalten«, erzählt Michael Daniel.

Allmählich machte es den Brüdern zu schaffen, dass die Kirchengemeinde den Vertrag zwar jedes Mal verlängerte, ihnen aber keine Klarheit darüber gab, ob sie auch langfristig bleiben könnten, denn sie wollten in die Räumlichkeiten investieren. So versuchten sie es vorübergehend mit einem zweiten Restaurant in Hampstead im Norden Londons, was die beiden aber vollkommen überforderte. Hinzu kam, dass es für die Brüder nach 15 gemeinsamen Jahren zunehmend schwerer wurde, weiter zusammenzuarbeiten.

Erst später und nach Aufgabe des zweiten Restaurants versuchten sie es noch einmal: mit einem Lokal in Islington und dem neuen Restaurant im Londoner West End, das Ende 2016 öffnete. Diesmal ließen sich die beiden Brüder helfen. So designte Michaels Frau, eine Architektin, beide Restaurants, und Manager kümmern sich darum, dass das Tagesgeschäft in beiden Häusern läuft. »Heute ist unsere Aufgabe mehr eine überwachende, aber ich packe immer sofort an, wenn etwas fehlt, wie kürzlich, als unsere Putzfrau nicht kam.«

Auch was das Essen angeht, bleiben einige Sachen dem Zufall überlassen. »Eines Tages kam ein Typ in unser Restaurant und gab uns einen Korb Pilze. Wir kannten bis dahin nur Champignons, und auf einmal waren wir mit den feinsten Pilzen der Gastronomie konfrontiert.« Adrian experimentierte damit, und seitdem gehört der Waldpilzrisottokuchen zu den besten Speisen auf der Karte.

Kochbuch Im Jahr 2007 brachten Michael und Adrian Daniel ein Kochbuch heraus. Auch das war eher Zufall. Ein Verleger fragte eines Tages aus heiterem Himmel, ob sie ein Buch machen könnten. Darin fanden sich – genau wie bis heute auf der Speisekarte – Gerichte wie Tortillas, Thai Curry, Schakschuka und die frittierte Couscous-Kubba. Neu sind Kreationen wie mit Miso bedeckte geröstete Auberginen, Rote-Bete-Torte und Gerichte mit Quinoa sowie verschiedene Salate und täglich wechselnde Suppen.

Aber nicht alles, was früher serviert oder in dem Buch erwähnt wurde, steht heute noch auf der Speisekarte. Denn manche Restaurantbesucher leiden unter Allergien, bedauert Michael. Der Gast kann sich anhand von Markierungen auf der Karte orientieren, ob die Speisen vegan sind oder vegetarisch und ob sie Zutaten enthalten, die möglicherweise Allergien auslösen – etwas, das es 1989 noch nicht gab. Was jedoch geblieben ist, sei der Wunsch, »die Gäste zu beglücken«, versichert Michael.

Die Jahre in der Steiner-Cafeteria haben in seiner Familie ihre Spuren hinterlassen. So besuchen beide Kinder heute eine Waldorfschule.

Mit gewissem Stolz blickt Michael Daniel auf die Jahre zurück, die, wie er sagt, viel zu schnell vergangen seien. »Obwohl ich lernbehindert bin, sind mein Bruder und ich die erfolgreichsten unter meinen Geschwistern.« Für Michael bedeutet das auch Verantwortung. So unterstützt er seit etlichen Jahren eine Stiftung, die autistischen Kindern hilft.

Trotz seines Erfolgs gibt er sich bescheiden. »Hin und wieder laden mich Leute ein und bitten mich, über Unternehmergeist und Geschäftsdenken zu sprechen«, erzählt er, »aber was meine Karriere betrifft, war alles Zufall und aus dem Hut gezaubert.«

Neben seiner Lernschwäche habe er noch eine weitere Schwäche, sagt er. »Ich kann nicht lügen.« Vielleicht ist es gerade das, was seinen Gästen schmeckt.

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