«Stimme der verstummten Millionen»

Anita Lasker-Wallfisch blickt ernüchtert auf die Welt

»Hier spricht Anita Lasker, eine deutsche Jüdin. Ich befinde mich mit meiner Schwester seit drei Jahren in Haft.« Am 16. April 1945 strahlte das deutsche Programm der BBC einen der ersten Augenzeugenberichte aus deutschen Konzentrationslagern aus, einen Tag nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen in Niedersachsen. »Ich war 19 und fühlte mich wie 90«, beschrieb Anita Lasker-Wallfisch später ihren Zustand damals, ausgezehrt und dem Tode nah. Sie überlebte Bergen-Belsen und Auschwitz, wo sie im Mädchen-Orchester spielte. Am 17. Juli wird Anita Lasker-Wallfisch 100 Jahre alt.

Die in London lebende Cellistin ist eine der bedeutendsten Zeitzeuginnen der NS-Zeit. Doch vor ihrem 100. Geburtstag ist Anita Lasker-Wallfisch ernüchtert angesichts der Weltlage, wie ihre Tochter Maya im Telefonat aus London erzählt: »Sie ist verzweifelt.« Angesichts eines wachsenden Antisemitismus, des zunehmenden Rechtsrucks und der Lage im Nahen Osten habe ihre Mutter den Eindruck, all ihr Engagement habe nicht viel bewirkt. Nach schweren Unfällen sei die bis dahin immer Selbstständige inzwischen außerdem auf Unterstützung angewiesen - dabei passe Abhängigkeit so gar nicht zu ihr.

Eine der wichtigsten Stimmen gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus

Als eine der wichtigsten Stimmen gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus ehrte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Anita Lasker-Wallfisch 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Ein Jahr zuvor überreichte er ihr den Deutschen Nationalpreis mit den Worten: »Es ist auch ein Verdienst um die Zukunft dieses Landes, ein Verdienst von unschätzbarem Wert.«

Noch bis ins hohe Alter hat sie unermüdlich ihre Stimme erhoben. Viele Male berichtete sie vor Schulklassen ebenso nüchtern wie schonungslos davon, wie in der NS-Zeit die Ausgrenzung der Juden begann, an deren Ende die Ermordung von Millionen von Menschen stand.

Als jüngste von drei Schwestern einer gutbürgerlichen Familie in Breslau erlebte sie mit acht Jahren zum ersten Mal selbst antisemitische Anfeindungen. »Ich verstand überhaupt nicht, was da eigentlich los war«, schrieb sie später in ihren Lebenserinnerungen. »Wir waren die typischen, total assimilierten deutschen Menschen«, formulierte sie es noch 2023 bei einem ihrer letzten öffentlichen Auftritte in Berlin. Im April 1942 wurden die Eltern deportiert und später ermordet. Der Vater Alfons Lasker, ein angesehener Rechtsanwalt, hatte sich zuvor vergeblich bemüht, noch aus Deutschland herauszukommen.

Liebe zum Cello

Kultur wurde in der Familie großgeschrieben, auch davon berichtete Anita Lasker-Wallfisch immer wieder. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe für das Cello. Das sollte ihr und ihrer älteren Schwester das Leben retten, nachdem im Dezember 1943 erst sie und später Renate in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt wurden.

»In Auschwitz - es ist kaum zu glauben - gab es Musik, und es wurde dringend jemand gebraucht, der Cello spielt«, sagte sie 2018 in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Jahrestag der Befreiung des Lagers. Und sie fügte an: »Wir konnten alles sehen: die Ankunftszeremonien, die Selektionen, die Kolonnen von Menschen, die Richtung Gaskammer gingen und in Rauch verwandelt wurden.«

Im November 1944 wurden die Schwestern ins Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert. »Auschwitz war ein Lager, in dem man Menschen systematisch ermordete«, schrieb Lasker-Wallfisch später: »In Belsen krepierte man einfach.« Sie und Renate überlebten trotz Hunger, Durst und Seuchen, die sich unter den katastrophalen hygienischen Verhältnissen ausbreiteten - auch weil beide einander Halt gaben.

Die Schwestern überlebten Auschwitz und Bergen-Belsen trotz Hunger, Durst und Seuchen

Als Renate Lasker-Harpprecht 2021 im Alter 96 starb, war es für die Familie ein schwerer Verlust, so schreibt es Maya Lasker-Wallfisch in einem ihrer Bücher, in denen sie die Auswirkungen der Familiengeschichte auf ihr eigenes Leben beleuchtet. »Meine kleine Schwester ist nicht mehr da«, habe ihre Mutter erschüttert gesagt: »Dabei war doch sie die Kleine gewesen. Aber Anita war eben immer die Kämpferin von ihnen beiden.«

Einen starken Eindruck hinterließ diese schon, als sie mit 20 Jahren auf Englisch als Zeugin in einem der ersten großen Prozesse zu den Gräueltaten in den NS-Lagern aussagte. Am 17. September 1945 begann in Lüneburg vor einem britischen Militärgericht das Verfahren gegen Mitglieder der Wachmannschaften von Bergen-Belsen. »Es war ein sehr gutes Gefühl, dort auf der richtigen Seite zu stehen«, sagte Anita Lasker-Wallfisch vor fünf Jahren. Den Prozess aber empfand sie als Farce, angesichts der unbeschreiblichen Dimensionen der Verbrechen, die er versuchte zu verhandeln.

Lesen Sie auch

Karriere als Cellistin in London und Mitbegründerin des English Chamber Orchestra

Anita Lasker-Wallfisch schwieg lange über das Erlebte. »Es war, als hätte Mutter sich in zwei Personen aufgespalten, eine von vorher, eine von nachher, und wir kannten nur letztere«, schreibt ihre Tochter Maya dazu, die Psychotherapeutin ist. »Ich glaube, dadurch war sie in der Lage, für sich ein neues ’normal‘ zu schaffen, ein neues Leben mit einer Familie.« Sie heiratete den Pianisten Peter Wallfisch. Als Cellistin machte sie in London Karriere und war Mitbegründerin des English Chamber Orchestra.

»Du gehörst zu einer anderen Welt als Musikerin.«

Anita Lasker-Wallfisch

Es dauerte viele Jahrzehnte, bis sie sich entschloss, ihre Geschichte für ihre beiden Kinder aufzuschreiben. Mit dem Erfolg ihres Buches »Ihr sollt die Wahrheit erben«, das 1996 erstmals erschien, wurde Anita Lasker-Wallfisch international auch als Zeitzeugin bekannt. Sie selbst sieht es als eine Pflicht an, »dass die, die überlebt haben, die Stimmen der verstummten Millionen sein müssen«. So sagte sie es zum 75. Jahrestag der Befreiung von Bergen-Belsen. Sie hat sich deshalb an dem Projekt »Dimensions in Testimony« beteiligt, in dem interaktive Hologramme von Holocaust-Überlebenden über deren Tod hinaus Fragen beantworten.

An ihrem 100. Geburtstag soll Anita Lasker-Wallfisch unter anderem mit einem öffentlichen Konzert in der Londoner Wigmore Hall geehrt werden. Ihre Tochter Maya wird die Veranstaltung moderieren. Unter den Aufführenden sind ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und Enkelkinder. Auf die Frage nach ihrer Heimat sagte sie einmal: Sie sei froh, Musikerin gewesen zu sein. »Du gehörst zu einer anderen Welt als Musikerin.«

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  05.11.2025 Aktualisiert

New York

ADL will Mamdani unter Beobachtung stellen

Die Anti-Defamation League erwartet vom neugewählten New York Bürgermeister nichts Gutes. Jetzt hat die jüdische Organisation angekündigt, man werde genau hinschauen

 05.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  05.11.2025 Aktualisiert

Essay

Mamdanis demokratische Steigbügelhalter

Führende Politiker der Demokraten haben aus Opportunismus die Wahl des Israel-Hassers Zohran Mamdani zum New Yorker Bürgermeister ermöglicht - und so in Kauf genommen, dass aus Worten gegen Israel wieder Gewalt gegen Juden werden könnte

von Menachem Z. Rosensaft  05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Spanien

Francos Erbe

Das Land, das den Sefardim einst ihren Namen gab, verlangt seinen Juden heute einiges ab

von Valentin Suckut  03.11.2025