Frankreich

Angst in Sarcelles

Gewalt auf der Straße: vergangene Woche in der Pariser Banlieue Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Zerschlagene Schaufenster, Plünderungen, brennende Autos, Verletzte – nächtelang toben in Frankreich Proteste und Krawalle. Seit ein Beamter am 27. Juni bei einer Polizeikontrolle in Nanterre, einem Vorort nordwestlich von Paris, einen 17-Jährigen erschoss, sind Tausende Jugendliche aus den Vorstädten in Rage und halten das Land in Atem.

Es sind nicht die ersten Krawalle dieser Art, die Frankreich erlebt, aber diesmal sei vieles anders, meinen Beobachter. Die protestierenden Jugendlichen seien aggressiver als früher, sagt ein Sprecher der Polizeigewerkschaft Unité SGP. »Sie schießen massenhaft mit Feuerwerkskörpern auf uns.«

anti-polizeiparolen In Nanterre wurde am Rande der Proteste ein Denkmal geschändet, das an die französischen Juden erinnert, die während der Schoa in Konzentrationslager deportiert wurden. Im Internet kursieren Videos, auf denen zu sehen ist, wie Demonstranten das Denkmal mit Anti-Polizeiparolen besprühen.

Der Europäische Jüdische Kongress verurteilte den Vandalismus als »schändlichen Akt der Missachtung des Gedenkens an die Opfer des Holocaust« und erklärte, dass der »wahrhaft entsetzliche« Vorfall »unmissverständlich verurteilt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen«.

Etliche Beobachter sehen darin jedoch nicht nur Vandalismus, sondern durchaus auch Judenhass. So twitterte das American Jewish Committee in Paris, Proteste dürften »niemals in Gewalt und abscheulichen Antisemitismus ausarten«.

Manche Muslime sehen Juden als Teil einer unterdrückerischen Machtstruktur.

Robert Ejnes, der geschäftsführende Direktor der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF, versucht, im Gespräch mit der israelischen Tageszeitung »Haaretz« zu differenzieren: Es sei schockierend, sagt er, dass in Nanterre das Mahnmal für die Deportation der Juden markiert wurde. »Aber es geschah in einem Kontext, in dem viele öffentliche Gebäude angegriffen wurden, und es wurde keine antisemitische Markierung an dieser Wand festgestellt.«

SPRECHCHÖRE Handfesten Judenhass gab es im Rahmen der landesweiten Proteste jedoch bei Fußballspielen. In etlichen Stadien waren am Wochenende antisemitische Sprechchöre zu hören. Vielen Juden macht dies Angst. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verurteilte in der Kabinettssitzung am Sonntag in Jerusalem die »Welle des Antisemitismus in Frankreich«. Man beobachte die Situation sehr genau, erklärte er.

Im Pariser Vorort Sarcelles, den man wegen seiner großen jüdischen Bevölkerung auch »Klein-Jerusalem« nennt, wurden nach Angaben des jüdischen Senders »Radio Shalom« auch koschere Geschäfte geplündert. Läden und Restaurants seien »ins Visier genommen worden«, hieß es in einem Tweet des Senders. Unklar bleibt für viele Beobachter jedoch, ob die Geschäfte tatsächlich ausgewählt wurden, weil sie jüdisch waren.

»Wir sind nicht speziell betroffen«, glaubt der 40-jährige Jonathan C. »Die Randalierer haben Geschäfte in jüdischem Besitz, Geschäfte in arabischem Besitz und sogar die Bus- und U-Bahn-Stationen zerstört, die ihre eigenen Familien benutzen, um zur Arbeit zu kommen«, sagte er im Gespräch mit der Jewish Telegraphic Agency (JTA). Ein koscherer Supermarkt und ein Perückengeschäft für orthodoxe jüdische Frauen gehörten zu den Läden, die in Sarcelles geplündert wurden. Aber, so empfindet es Jonathan C., »es gab keine Logik in diesem Wahnsinn. Die Randalierer schlugen einfach jedes Geschäft kaputt, das auf ihrem Weg lag«.

angst Jonathan C. lebt in Sarcelles und hat Angst. Bevor die Sonne untergeht, zieht er die Vorhänge an den Fenstern seiner Wohnung zu. »Ich möchte nicht, dass meine Wohnung von der Straße aus gesehen wird und ins Visier gerät«, sagte er JTA.

Viele Juden fühlen sich bedroht von den Ausschreitungen, die sie an den Sommer 2014 erinnern.

So wie er empfinden Tausende Juden, die in Sarcelles und anderen Gebieten mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil leben. Sie fühlen sich bedroht von den Ausschreitungen, die sie an den Sommer 2014 erinnern, als jugendliche Randalierer bei Protesten gezielt jüdische Geschäfte anzündeten. Außerhalb von Sarcelles wurden damals auch mehrere Synagogen angegriffen. Im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamas nahm die Feindseligkeit von Muslimen gegenüber Juden im Sommer 2014 massiv zu. »Damals hatte ich als Jude Angst, diesmal habe ich als Franzose Angst«, sagt Jonathan C.

Normalerweise geht es in Sarcelles mit seiner ethnisch sehr vielfältigen Bevölkerung zwar geschäftig zu, aber es ist ruhig. In den vergangenen Tagen jedoch hätten die zum Teil gewalttätigen Proteste das Stadtbild in eine Kampfzone verwandelt, melden französische Medien: »Im Schein brennender Reifen zerschlagen Plünderer Schaufenster.«

Viele der Randalierer, so Jonathan C., seien nicht älter als 15 Jahre, einige seien sogar erst zwölf. »Es gibt keine Ideologie, das sind Kinder, die sich an der Barbarei beteiligen«, sagt er. Mancher jüdische Beobachter hält dies für brandgefährlich. Denn manche Muslime sähen Juden als Teil einer unterdrückerischen Machtstruktur.

ZAHLEN In Frankreich leben derzeit rund 500.000 Juden – es ist die größte jüdische Gemeinschaft in Europa. Seit dem Holocaust hat sich die jüdische Bevölkerung im Land verdoppelt. Zugenommen hat (vor allem in den vergangenen Jahren) aber auch die Zahl antisemitischer Angriffe. So registrierte der Jüdische Gemeindeschutzdienst SPCJ (Service de Protection de la communauté Juive), eine lokale Überwachungsorganisation, im Jahr 2022 mehr als 430 antisemitische Angriffe.

Das französische Innenministerium be­obachtet, dass seit einigen Jahren die Zahl von Hassattacken gegen Christen ebenfalls zunimmt. Für viele französische Juden ist dies ein besorgniserregendes Signal. Beobachter sehen in den vielen antisemitischen und antichristlichen Angriffen ein Wiederaufleben des radikalen Islam in den migrantischen Gemeinschaften des Landes.

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