Von seinem Moskauer Büro aus steht Roman Spektor, Sprecher des Euroasiatischen Jüdischen Kongresses (Jewroasiatski Jewrejski Kongress, EAJK), in ständigem Telefonkontakt mit der jüdischen Gemeinde in Kirgisien. Die Mehrzahl der geschätzt bis zu 2.500 kirgisischen Juden lebt in der Hauptstadt Bischkek, im nördlichen, industriell besser erschlossenen Teil des Landes. »Aber auch in Osch und Dschalal-Abad, wo jetzt die Kämpfe andauern, leben einige Familien«, sagt Spektor. Bis zu hundert jüdische Gemeindemitglieder sollen es sein.
Seit dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Kurmanbek Bakijew gibt es ein Machtvakuum in dem zentralasiatischen Land. Die Übergangsregierung um Oppositionspolitikerin Rosa Otunbajewa will sich erst Ende Juni durch ein Verfassungsreferendum legitimieren lassen.
Erste Unruhen brachen im April dieses Jahres in der Hauptstadt Bischkek aus. Anfang Juni dann entflammten im ärmeren, landwirtschaftlich geprägten Süden des Landes, an der Grenze zu Usbekistan, die mit schweren Waffen ausgetragenen Kämpfe zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit. Zunächst drang wenig Information aus der Krisenregion nach außen. Jetzt ist das Ausmaß der Katastrophe weitgehend bekannt: Von mehreren Tausend Toten ist die Rede. Frauen wurden systematisch vergewaltigt. Rund 275.000 Menschen flohen aus den weiterhin umkämpften Gebieten Osch und Dschalal-Abad. Es fehlt an Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten.
hilfE Trotz der Heftigkeit der Unruhen habe die Gemeinde in Bischkek Hilfslieferungen oder gar die Evakuierung durch den EAJK abgelehnt, berichtet Spektor. »Und beim letzten Telefonat haben unsere Vertreter in der kirgisischen Hauptstadt erklärt, dass auch die Juden im Süden keine Hilfe anfordern. Offenbar gehen sie davon aus, dass alles so vorübergeht. Möglicherweise ist das ein bisschen naiv«, findet der Sprecher. So wie er das sagt, klingt es ein wenig hilflos. Die Medienberichte über die Situation in Bischkek sind widersprüchlich. Einerseits soll es wieder ruhig sein in der kirgisischen Hauptstadt. Andererseits ist weiterhin von plündernden Banden die Rede, die in Bischkek und Umgebung Angehörige der ethnischen Minderheiten der Uiguren, Usbeken und Dunganen schikanieren.
Pass Während der Unruhen im April war auch die jüdische Gemeinde von Übergriffen betroffen: Von der Straße aus warfen Randalierer eine Flasche mit brennbarer Flüssigkeit durch das Fenster in den Innenraum der Synagoge. An Gebäuden im Stadtzentrum hingen Transparente mit antisemitischen Sprüchen. Die Vorfälle würden in Kirgisien damit erklärt, dass die ungeliebte Präsidentenfamilie »nicht wenige jüdische Freunde« gehabt habe, berichtete das Online-Portal Jewish.ru. Öffentlich bekannt wurde nur die Freundschaft mit Jewgeni Gurjewitsch, einem in Kirgisien geborenen Juden mit US-amerikanischem Pass. Der hatte im Auftrag des Bakijew-Clans Staatsbetriebe privatisiert und dabei das Privatvermögen der Präsidenten-Familie um Milliardenbeträge vergrößert. Anfang März ließ die Staatsanwaltschaft in Rom den »Finanzberater« wegen Geldwäsche und Geschäften mit der kalabrischen Mafia international zur Fahndung ausschreiben. Ende April wurde Gurjewitsch in Kasachstan verhaftet.
»In Bischkek ist es zurzeit tatsächlich ruhig«, sagt Arje Rajchman, Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Bischkek. »Der Übergriff auf die Synagoge hat sich zum Glück als Einzelfall herausgestellt.« Rajchman kann nicht erkennen, dass der Antisemitismus in Bischkek seit dem Vorfall im April zugenommen hätte. Was die Versorgung angeht, so seien die Geschäfte in der Hauptstadt geöffnet. Es gebe alles zu kaufen. »Hilfsgüter brauchen wir nicht«, fügt er hinzu. Wie es im Süden bestellt ist und wie es den Gemeindemitgliedern dort geht, weiß der Rabbiner indessen bloß aus Telefongesprächen. »Wir können jetzt nur mit Worten helfen. Es ist nicht so, dass wir einfach einen Hilfstransport zusammenstellen und dorthin fahren können«, sagt er. Schließlich habe die Übergangsregierung den Ausnahmezustand für die Krisengebiete bis Ende Juni verlängert. In Osch und Dschalal-Abad werde weiter gekämpft.
Risiko Als sehr ernst schätzen Israel und das Jewish Joint Distribution Committee (JDC) die Situation in Kirgisien ein. Am Sonntag wurden zwölf Juden nach Israel ausgeflogen. Der Joint, auch schon vor Ausbruch der Kämpfe im Süden Kirgisiens aktiv, hat den Umfang der Hilfsleistungen erhöht. »Wir unterstützen dort drei Risikogruppen«, erklärt Michael Geller, Sprecher in der New Yorker Zentrale des Joint. »Das sind alte Menschen, Kinder und Familien.« Die Hilfspakete des JDC enthalten Grundnahrungsmittel wie Nudeln, Mehl und Speiseöl. Zusätzlich schickt die Organisation warme Kleidung und Medikamente.
Da es in Dschalal-Abad keinen Flughafen gibt und der von Osch derzeit nicht genutzt wird, kamen sämtliche internationalen Hilfsleistungen in den vergangenen Tagen am Flughafen von Bischkek an. Mühsam müssen sie auf Lkw verladen und anschließend über hunderte von Kilometern auf der einzigen ausgebauten Fernstraße durch das Tianshan-Gebirge in die Unruheregionen befördert werden. Dort hat die Bevölkerung vielerorts die Einfahrten zu den Dörfern mit tiefen Straßengräben, explosiven Gasflaschen und Barrikaden aus Sandsäcken gegen umherziehende Banden gesichert.
Netzwerk Trotz aller Hindernisse sind mittlerweile erste internationale Hilfstransporte in Osch und Dschalal-Abad angekommen. Geller ist fest davon überzeugt, dass auch die Pakete des Joint ihr Ziel erreichen. »Wir achten sehr genau darauf, dass unsere Hilfe bei den Bedürftigen ankommt«, sagt der JDC-Sprecher. Möglich sei das, weil sich Freiwillige des Joint, Mitarbeiter des Chesed-Zentrums Bischkek und Mitglieder der lokalen Gemeinde auch schon vor Ausbruch der Unruhen intensiv um die Juden im Süden Kirgisiens gekümmert hätten. Sie versorgten Bedürftige, die ihre Häuser nicht verlassen können, zu Hause mit warmen Mahlzeiten, übernachteten, wenn nötig, sogar bei ihnen. Geller geht davon aus, dass dieses Netzwerk auch jetzt weiterfunktioniert, unter Krisenbedingungen.