Südafrika

Am Ende der Welt

Um nach Calvinia zu gelangen, braucht man Geduld. Eine endlos scheinende gerade Straße, Hunderte Kilometer nur Büsche am Straßenrand und ab und zu ein paar Hügel. Zwischen den Büschen fressen Schafe die wenigen grünen Blätter, Menschen sieht man in dieser Gegend nur selten.

Calvinia hat ein paar Tankstellen, einen Supermarkt und was man im Hinterland sonst noch dringend braucht. Den Ort würde man schnell vergessen, gäbe es nicht die historischen Häuser, die von einer großen Blütezeit zeugen. Calvinia, das heute mit hoher Arbeitslosigkeit und Wassermangel zu kämpfen hat, war Mitte des 19. Jahrhunderts eine florierende Gemeinde in Südafrikas Kleiner Karoo, einer Halbwüstenlandschaft in den Hochebenen des Landes.

Bis Kapstadt sind es über 380 Kilometer, die Sommer sind unbarmherzig heiß und die Winter nachts bitterkalt. Dennoch haben sich hier, am Fuße der Hantam-Berge, einst Auswanderer aus den Niederlanden angesiedelt, um Schafe zu züchten. Die Calvinisten wollten ihren Glauben in Abgeschiedenheit leben. Den Ort, der bis dahin »Hantam« hieß, was in der Khoi-Khoi-Sprache so viel wie »Berg, wo die roten essbaren Blumen blühen« bedeutet, benannten sie kurzerhand in Calvinia um.

Farmer In Europa nahm derweil die Industrialisierung Fahrt auf. Wolle musste nicht mehr händisch gesponnen werden, man konnte sie maschinell verarbeiten. Die Nachfrage war groß, der Transport der Wolle zum nächsten Hafen nach Kapstadt für die Farmer jedoch sehr langwierig und beschwerlich.

Die Situation in Litauen und der Ukrai­ne hatte sich für Juden dramatisch verschlechtert.

Louis Heilbron erkannte die Chance und ließ sich 1848 als erster jüdischer Händler in Calvinia nieder. Nach und nach wuchs die jüdische Gemeinde. Während es anfangs Auswanderer aus Deutschland und England waren, zogen in den 1880er-Jahren immer mehr Familien aus Litauen ins südafrikanische Hinterland.

Die Situation in Litauen und der Ukrai­ne hatte sich für Juden dramatisch verschlechtert. Russische Pogrome zwangen viele zur Flucht nach West- und Mitteleuropa. Dort war die wirtschaftliche Lage indes sehr angespannt – für Deutsche, Engländer und Italiener genauso wie für aus dem Osten geflüchtete Juden.

schiffspassagen Viele wanderten nach Amerika aus. Die Schiffspassagen waren begehrt, doch sie waren teuer. Tickets nach Südafrika hingegen konnte man sehr viel schneller haben, und sie waren preiswerter.

Leon Helfet war einer der aus dem Schtetl Chernuck geflüchteten Juden, die zuerst in England ihr Glück versuchten, nach ein paar Jahren aber weiter nach Südafrika zogen. Zwölf Pfund bezahlte er für die 21-tägige Schiffspassage, 26 Pfund blieben ihm für den Neuanfang.

So wie Helfet traten Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 40.000 Juden den Weg nach Südafrika an. Viele von ihnen gingen in Kapstadt von Bord und wurden dort, wie alle Neuankömmlinge, von jüdischen Mentoren empfangen, in einem Übergangsheim untergebracht und mit vielen guten Ratschlägen auf ihr neues Leben vorbereitet.

kolonie In Kapstadt hatte sich innerhalb von 100 Jahren eine lebendige jüdische Gemeinde entwickelt. Möglich wurde dies durch den niederländischen Generalkommissar Jacob Abraham de Mist. Der erlaubte es Juden 1804 per Proklamation, sich in der niederländischen Kolonie Südafrika aufzuhalten und ihr Judentum zu praktizieren.

Bevor Calvinisten aus den Niederlanden kamen, hieß der Ort Hantam.

Leon Helfet hatte Glück und lernte den Tierhändler Oom Dawie Cohen kennen. Dieser riet ihm, einen Kredit aufzunehmen und in Calvinia ein Geschäft zu eröffnen. Leon kaufte zwei Pferde und einen Wagen mit Waren und machte sich auf den Weg ins Hinterland.

Die Geschäfte liefen in dieser Zeit für Leon Helfet gut, was auch am Zweiten Anglo-Burischen Krieg lag, der 1899 begonnen hatte. Calvinia besaß für die beiden Kriegsparteien einen hohen strategischen Wert. Die Engländer stationierten in und um Calvinia große Truppenverbände, die versorgt werden mussten.

uniformen Die Armee brauchte Uniformen, Decken, Essen für die Soldaten und Futter für die Tiere. Die jüdische Gemeinde wuchs weiter und zählte zur Jahrhundertwende 104 Mitglieder.

Sieben Jahre brauchte Helfet, um sein Geschäft aufzubauen, genügend Geld anzusparen, sich ein Haus zu bauen und seine Verlobte Sara aus England nachzuholen. Er baute ihr die »Villa Carmel«, ein prachtvolles Haus im europäischen Stil mit jüdischen und ukrainischen Elementen, ließ Möbel und Geschirr aus England kommen und heiratete seine Braut in Kapstadt.

Empfangen wurde das Brautpaar nach einer fünftägigen Reise nicht nur von den jüdischen Gemeindemitgliedern, sondern auch von calvinistischen Familien, mit denen sich Helfet angefreundet hatte.

Respekt Die jüdische Gemeinde war klein, hatte aber eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung Calvinias. Man schätzte und respektierte sich. Einmal fiel beispielsweise der Termin für das traditionelle »Nachtmaal«, einen Abendgottesdienst, zu dem jedes Jahr Farmer aus der weiteren Umgebung nach Calvinia kamen, auf Rosch Haschana. Sie beteten in der Kirche, es wurden aber auch Schulden bei den Händlern beglichen, und man kaufte ein. Für die jüdischen Geschäftsleute in der Stadt wäre es eine finanzielle Katastrophe gewesen, an diesem Tag nicht mitmachen zu können. Der Kapstädter Rabbi Rabinowitz sprach mit dem Pfarrer, und dieser erklärte sich bereit, den Termin für das Nachtmaal zu verlegen.

Rabbi Rabinowitz reiste an hohen Feiertagen die 380 Kilometer nach Calvinia, um Gottesdienste zu halten.

Rabbi Rabinowitz war es auch, der an hohen Feiertagen die 380 Kilometer nach Calvinia reiste, um Gottesdienste zu halten. Einen eigenen Rabbi hatte Calvinia nicht, doch gab es seit 1899 in der Waterstraat eine kleine Synagoge, und 1920 eröffnete die Gemeinde eine größere in der Church Street.

In den 40er-Jahren erlangten die Grauhemden, eine faschistische Organisation, immer mehr Einfluss im Hinterland, wodurch das Leben für die jüdischen Familien zunehmend gefährlicher wurde. Die Helfets entschieden sich 1948, ihren Autohandel zu verkaufen und nach Kapstadt zu ziehen. Im Laufe der Zeit verließen immer mehr Juden das Städtchen, und 1968 traf man sich in der Synagoge ein letztes Mal zum Gebet.

bed & breakfast Bis heute ist die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit lebendig. Auf dem Friedhof gibt es eine kleine jüdische Abteilung, und in der früheren Synagoge ist das Städtische Museum untergebracht. Dessen Leiterin Memci van Wyk hat über die Jahre mit viel Leidenschaft Erinnerungsstücke des jüdischen Lebens in Calvinia zusammengetragen. Die »Villa Carmel«, die Leon Helfet einst seiner Frau schenkte, dient heute als Bed & Breakfast, und die erste Synagoge in der Waterstraat beherbergt seit einigen Jahren das Restaurant »Blou Nartjie«.

Die Erinnerung lebt, aber die goldene Ära Calvinias, so Memci van Wyk, ging zu Ende, als die letzte jüdische Familie vor rund 40 Jahren die Stadt verließ.

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