Der Skandal um den staatlichen Energiekonzern »Energoatom« erschüttert derzeit die Ukraine. Auch in westlichen Medien wird jetzt kritisch darüber berichtet – über Präsident Wolodymyr Selenskyj, seine politische Zukunft und über die Ukraine, die auf ihrem Weg in die EU immer wieder von einer alten Plage heimgesucht wird, und zwar der Korruption.
Spiridon Kilinkarov dagegen kann sich über diese Entwicklungen nur freuen. Vor der Maidan-Revolution war der heute 57-Jährige ein Politiker der inzwischen verbotenen Kommunistischen Partei der Ukraine. Seit Jahren lebt er in Moskau, verbreitet in Propagandasendungen anti-ukrainische Narrative und hetzt gegen die angeblich »faschistische Regierung« in Kyjiw.
Kein Wunder, dass Kilinkarov in der Energoatom-Affäre eine Steilvorlage sieht. Aus seiner Sicht ist vor allem entscheidend, dass die mutmaßlich Beteiligten – die Geschäftsleute Timur Mindich und Oleksandr Zuckerman – dem Umfeld Selenskyjs zugerechnet werden und laut Medienberichten inzwischen nach Israel ausgereist sein sollen.
Es wird von einer amerikanischen Operation fabuliert, mit der US-Präsident Donald Trump den »widerspenstigen« Selenskyj stürzen wolle.
An die Unabhängigkeit des Nationalen Antikorruptionsbüros und der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, deren Operation »Midas« gerade die wohl größte politische Krise seit vielen Jahren ausgelöst hat, glaubt Kilinkarov nicht. Stattdessen wird von einer amerikanischen Operation fabuliert, mit der US-Präsident Donald Trump den »widerspenstigen« Selenskyj stürzen wolle.
Über Mindich und Zuckerman spottet der Propagandist: »Ich weiß nicht, ob sie Juden oder Idioten sind. Sind sie wirklich so naiv zu glauben, dass sie, nachdem sie nach Israel ausgewandert sind, in Sicherheit sind?« Kilinkarov bedient sich dabei des negativen Klischees vom US-hörigen jüdischen Staat, der notfalls auch seine »eigenen jüdischen« Bürger an den »großen amerikanischen Bruder« ausliefern würde.
Antisemitisch angehauchte Theorie
Belege für diese antisemitisch angehauchte Theorie liefert Kilinkarov jedoch nicht. Trotzdem wiederholen die staatlich kontrollierten Medien in Russland derartige Erzählungen und modifizieren ihr Narrativ, nachdem Informationen über Trumps neuen, für Russland insgesamt vorteilhaften Ukraine-Plan durchgesickert waren: Nun ist von einer Korruptionsfalle die Rede, die Washington Selenskyj gestellt hätte, um ihn nachgiebiger zu machen.
Dabei wird die jüdische Herkunft von Mindich, Zuckerman und Selenskyj sowie dem mächtigen Chef seines Präsidialamts, Andrij Jermak, entweder ausdrücklich hervorgehoben oder lediglich auf eine »israelische Spur« verwiesen. Die Intention dabei bleibt aber immer die gleiche, und zwar das in Russland tief verwurzelte, auch von Präsident Wladimir Putin mehrfach angedeutete, Bild von einer »jüdischen Vorherrschaft« in der Ukraine weiter zu festigen.
Man will das Bild einer »jüdischen Vorherrschaft« in Kyjiw weiter festigen.
In Israel dagegen fand der Skandal in der Ukraine wenig Beachtung. Auch Trump reagierte erst spät auf die Meldungen über Korruption und äußerte sich nur vage. Der Einfluss der USA auf die laufenden Ermittlungen in Kyjiw bleibt unklar – dennoch kommt die Affäre der Trump-Administration, vor allem dem auffällig Ukraine-kritischen Vizepräsidenten J. D. Vance, gelegen, um ihren »Friedensplan« durchzusetzen.
Der Skandal trifft die ukrainische Führung ins Mark. Denn der Präsident pflegte stets enge Verbindungen zu Mindich, dem Teilinhaber des von Selenskyj aufgebauten Medienunternehmens Kvartal 95, der als sein Freund galt. Nun soll ausgerechnet Mindich diese Freundschaft missbraucht haben, um ein Korruptionsnetzwerk aufzubauen, mit dem er rund 100 Millionen Dollar verdient haben soll. Während Minister und hochrangige Beamte, die in die Affäre verwickelt sind, wie Andrij Jermak, der auch der Chefunterhändler mit den Vereinigten Staaten war, zurücktraten oder festgenommen wurden, konnten Mindich und Zuckerman offenbar rechtzeitig gewarnt werden und die Ukraine ungehindert verlassen.
Selenskyjs ohnehin schwache Umfragewerte sinken weiter
Zuckerman weist die Vorwürfe zurück. Mindich schweigt. Ukrainische Medien sprechen inzwischen von einem »Mindich Gate« und stellen die Unschuld des Staatschefs infrage. Dass Selenskyj und Jermak noch vor wenigen Monaten versucht hatten, die Antikorruptionsbehörden zu entmachten, verstärkt den Eindruck, ein sich abzeichnender Skandal sollte vorzeitig vertuscht werden. Entsprechend sinken Selenskyjs ohnehin schon schwache Umfragewerte weiter.
Hinzu kommt der politisch-militärische Kontext. An der Front steht die Ukraine enorm unter Druck. Russische Einheiten rücken trotz großer Verluste weiter vor. Es fehlt an Soldaten, und die ukrainische Energieinfrastruktur – verwaltet von Energoatom – wird von Russland gezielt angegriffen. Während sich der Freund des Präsidenten offenbar bereichert haben soll, müssen viele Menschen tagelang ohne Strom und Heizung auskommen. Die auf Annäherung an Russland setzende US-Regierung hingegen drängt die Ukraine zu Zugeständnissen. Gleichzeitig hapert es mit der Unterstützung der Europäischen Union.
So wird »Mindich Gate« zum Fluch für die Ukraine – und zum Segen für ihre Kritiker, Gegner und Antisemiten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán etwa greift den Skandal auf, um der »korrupten Ukraine« erneut die Eignung für eine EU-Mitgliedschaft abzusprechen. Türkische und iranische Medien konzentrieren sich vor allem auf die israelische Komponente. Das staatliche iranische Portal »ParsToday« behauptet sogar, Mindich führe mit dem gestohlenen Geld bereits ein prachtvolles Leben in Israel.
In ukrainischen sozialen Netzwerken heizt der Skandal judenfeindliche Ressentiments an.
In ukrainischen sozialen Netzwerken heizt der Skandal derweil antisemitische Ressentiments an. Um Distanz zu den beiden Unternehmern zu demonstrieren, gießt auch Selenskyj Wasser auf die Mühlen von Judenhassern: Mindich und Zuckerman, beide zur Fahndung ausgeschrieben, verlieren ihre ukrainische Staatsbürgerschaft und werden nun als israelische Staatsbürger sanktioniert
In Mindichs Familiengeschichte stoßen manche Kritiker auf eine in der heutigen Ukraine politisch heikle »russische Episode«: Seine in Toronto geborene Ehefrau hatte jahrelang in Moskau gearbeitet. Und dann kommt noch Trumps Friedensplan hinzu, bei dessen Ausarbeitung Steve Witkoff federführend war – genau jener Vertraute des US-Präsidenten, der als Putin-Freund gilt und nicht selten Zielscheibe antisemitischer Angriffe wird.
Und so können Spiridon Kilinkarov und seine Kollegen sich zufrieden in Moskau zurücklehnen und zusehen, wie ihre Narrative Wirkung zeigen.