Georg Stefan Troller ist tot. 103 Jahre alt ist er geworden. Ein Jahrhundertmensch ist gegangen, ein gefeierter Journalist, Filmemacher und Autor, ein Überlebensheld, ein »Menschenfresser«. Letzteren Namen hat er sich selbst einmal verpasst.
Ein kleiner Trost angesichts dieser schrecklichen Nachricht ist, dass nun sehr viele Menschen Nachrufe verfassen, denen er Freund und Vorbild war, die ihn im Laufe seines Lebens getroffen haben und nie wieder loslassen wollten. Denn trotz all der Katastrophen, die George überstehen musste, war er auch einer der charmantesten, offensten und großzügigsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Und ein genialer, Beobachter seiner Zeit.
Meine eigene Groupie-Geschichte begann 2006, als er mich zu seinem 85. Geburtstag nach Paris einlud, nachdem ich, journalistisches Greenhorn und Fan seiner Bücher, ihn um ein Interview gebeten hatte. Im Café Flore kamen Freunde und Wegbegleiter zusammen. Ich saß mit meiner heißen Schokolade am Rande und bestaunte die in die Tage gekommenen Autoren, Schauspieler und Journalisten, die ihm die Ehre erwiesen.
Gegen Mittag stand ich dann plötzlich allein mit ihm auf der Straße. Wir redeten weiter, während wir durchs Dezember-kalte St. Germain wanderten. Er kaufte mir heiße Maronen, stellte mir Bouquinisten vor, zeigte mir das Hotel, in dem er - wie auch Paul Celan - Anfang der 50er-Jahre gewohnt hatte, und erzählte Geschichten zu Häusern, schönen Frauen und Antiquariaten, die alle nicht mehr existierten.
Bis er abrupt stehenblieb: »Was mache ich hier? So eine Tour durch Paris habe ich doch immer abgelehnt.« Sagte es und eilte die Treppe zur Métro hinunter. Am nächsten Tag sollte ich zu ihm kommen für das Interview.
Damals, trotz Volontariat, fand ich Interviews schwierig. Immer wieder wurden sie viel zu persönlich, ich schämte mich geradezu, nicht ausreichend Distanz zu wahren. George trieb es mir mit einem Satz aus: »Das Beste, was dir passieren kann, ist, dass du dich ein bisschen in dein Gegenüber verliebst, und dein Gegenüber sich in dich.«
So war es ihm also ergangen mit all den »Stars, Heiligen, Poeten, Sündern, Autoren, Künstlern« - so einer seiner Buchtitel - wie Marlene Dietrich, Edith Piaf, Catherine Deneuve, Isabella Rossellini, Josephine Baker, Jean-Paul Belmondo, Alain Delon, Arthur Rubinstein, Gisèle Freund, Robert Badinter, Romy Schneider, Kirk Douglas, John Malkovich oder auch Loki Schmidt ... Nur ausgerechnet Picasso hatte sich nicht getraut und George präventiv so heftig beleidigt, dass es nie zum Interview kam.
Er »fresse« die Menschen in all ihren Details, um sie besser zu verstehen, sagte George einmal über seine Arbeit. So wurde die Geschichte, die ihn als 16-Jährigen aus Wien verjagte, in Paris vorübergehend Sicherheit gewährte, ihn monatelang in einem französischen Lager internierte, und schließlich über Marseille in die USA entkommen ließ, zur Verbündeten: Weil ihn in New York das Heimweh so sehr quälte, kehrte er 1943 als G.I. nach Europa zurück, wo er in Verhören von gefangenen Nazis das Talent perfektionierte, die richtigen Fragen auf die richtige Art zu stellen.
Er war auch bei der Befreiung Dachaus dabei. Es vergehe nicht ein Tag, an dem er nicht an die Schoa denke, sagte George. Und deshalb befragte er auch sich selbst: Wie war dieser Hass möglich, der seine Familie zerrissen und zum großen Teil ausgelöscht hatte? Wie sollte er je wieder lachen lernen? Wie unter Menschen leben, die seinen Tod wollten? Wie seine geliebte deutsche Sprache zelebrieren, wenn es doch die Sprache der Mörder war?
Er machte das Fragenstellen sogar zum Beruf, wurde Fernsehjournalist, erfand in den 60ern das »Pariser Journal« und in den 70ern als ZDF-Sonderkorrespondent das Format »Personenbeschreibung«. Er revolutionierte das Interview, holte es aus der neutralen Kälte in die empathische Intimität.
Seine sonore warme Stimme machte ihn unvergesslich, die Fanbase wuchs, er gewann Preise, er heiratete, wurde Vater. Und ganz langsam kam das Lachen zurück. Eine »Selbstrettungsaktion« hat er seine Berufswahl einmal genannt.
Er feierte jeden Geburtstag mit einer Party in seinem Apartment im siebten Stock im siebten Arrondissement mit Blick auf den Eiffelturm. Und war noch wach, wenn Menschen, die halb so alt waren wie er, schon die Augen zufielen. Seine Jahrhundert-Biografie im Jahr 2021 nannte er »Meine ersten hundert Jahre«. Und diesmal wurde in Wien gefeiert, mit Kino, Lesung und Wiener Brötchen von Trzesniewski.
Dass ihm, natürlich viel zu spät, die Staatsbürgerschaft zurückgegeben wurde, hat ihn gefreut. »Ich hasse den Hass«, sagte George und zitierte gern Edith Piaf, die auf seine Frage, worauf es im Leben ankomme, einst strahlend mit »Die Liebe natürlich!« geantwortet hatte.
Die hat George in seinem Leben gesucht und in den verschiedensten Ecken und Enden gefunden; in zwei Ehen, seinen zwei Töchtern, Kater Foxy, und zum Glück auch zu sich selbst, was ich mir hier anmaße zu schreiben, weil alles andere unerträglich wäre.
Das alles war George, und mein Herz tut weh, weil ich es in der Vergangenheitsform schreiben muss.