London

Ab jetzt »Progressiv«

Heute schon vereinigt: St John’s Wood United Synagogue im Zentrum Londons Foto: picture alliance / Heritage Images

London

Ab jetzt »Progressiv«

Nach 120 Jahren schließen sich liberales und Reformjudentum zusammen

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  29.04.2023 23:33 Uhr

Sie beten auf Englisch und Hebräisch. Zu ihnen gehören die erste britische Rabbinerin Jackie Tabick sowie Claude Montefiore (1858–1938), der das Reformjudentum einst nach Großbritannien brachte, oder Menschen, die in den 30er-Jahren aus Deutschland flüchteten, wie Rabbiner Werner Van der Zyl (1902–1984). Heute gelten Rabbinerin Julia Baroness Neuberger oder Rabbi Josh Levy zu ihren wichtigsten Vertretern. Ihre Gemeinden unterhalten Synagogen, die zu den größten und schönsten Großbritanniens gehören, etwa die West London Synagogue oder die Alyth Synagogue im Nordwesten Londons.

Bisher agierten die beiden progressiven jüdischen Strömungen Liberal Judaism und Movement of Reform Judaism separat, manchmal standen sie sogar miteinander im Streit, obwohl ihre Rabbiner schon lange gemeinsam am Londoner Leo Baeck College ausgebildet werden. Vergangene Woche erklärten sie nun, sich am 1. Mai zur jüdischen Bewegung »Progressive Judaism« zusammenzuschließen.

Schon lange werden Rabbiner beider Bewegungen am Leo Baeck College ausgebildet.

Die Geschäftsführerin des bisherigen Liberal Judaism, Rabbinerin Charley Baginsky, und Rabbi Josh Levy von der Londoner Reform-Synagoge Alyth werden die neue Bewegung gemeinsam führen. Beide beschreiben die Vereinigung als »eine natürliche Entwicklung«, die ihre Stimme in Zukunft klarer und lauter machen werde, sowohl in Großbritannien als auch weltweit.

Zudem würde die Arbeit der Rabbiner und Kantoren damit erleichtert, betonten sie. Schon seit mehreren Jahrzehnten werden Rabbiner und Rabbinerinnen der beiden Bewegungen beidseitig eingestellt. Ansonsten beschränkte sich die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Strömungen bisher vor allem auf Aktionen für soziale Gerechtigkeit.

Trotz mehrfacher Versuche in den 70er- und 80er-Jahren, Liberal Judaism und Movement for Reform Judaism zu vereinigen, blieben beide 120 Jahre lang separat – anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten oder in Israel. »Wir haben länger dafür gebraucht als Moses für seine Wanderung durch die Wüste«, sagen Baginsky und Levy lachend.

Konversionen Früher gab es oft Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Bewegungen, heute hingegen sehe man vor allem die Gemeinsamkeiten, wie etwa das Willkommenheißen interkonfessioneller Familien sowie egalitäre Gottesdienste oder gleichgeschlechtliche Trauungen.

Im Jahr 2015 fiel die letzte Hürde zwischen den beiden Bewegungen, als sie Kinder mit nur einem jüdischen Elternteil, egal ob Vater oder Mutter, ohne Konversion als jüdisch anerkannten. Danach konnte man kaum mehr einen wirklichen Unterschied zwischen den beiden progressiven Bewegungen ausmachen.

Während der Corona-Pandemie und der Zeit danach erfuhr die progressive Bewegung Aufwind. Plötzlich gab es Online-Gottesdienste, und unzählige Freiwillige setzten sich für andere ein. All dies habe dann zu dem Entschluss geführt, sich zusammenzuschließen, sagen Baginsky und Levy.

DEMOGRAFIE Möglicherweise gab es aber noch einen weiteren Grund, den die beiden jedoch nicht nannten: Laut einer Studie des Londoner Institute for Jewish Policy Research (JPR) ist die Zahl der Gemeindemitglieder zwischen 1990 und 2016 in allen jüdischen Strömungen (außer dem ultraorthodoxen Judentum, das eine höhere Geburtenrate verbucht) stark zurückgegangen.

Die Demografen haben herausgefunden, dass sich inzwischen nur noch 56 Prozent der Haushalte mit mindestens einer jüdischen Person einer Gemeinde anschlossen. Dies hat gravierende Folgen: So sah sich wegen schwindender Mitgliederzahlen die 1928 gegründete Londoner West Central Liberal Synagogue gezwungen, sich aufzulösen.


Die Jugendorganisationen der beiden bisherigen Bewegungen bleiben separat.

Baginsky und Levy betonen, dass die Gottesdienste in den mehr als 80 Synagogen der beiden Bewegungen auch nach dem Zusammenschluss in den jeweils unterschiedlichen Traditionen gehalten werden dürfen. Beide bisherige Bewegungen seien gleichberechtigte Partner in der neu gegründeten Organisation, die mit rund 40.000 knapp ein Drittel der Gemeindemitglieder im Vereinigten Königreich vertritt. Trotz des Zusammenschlusses sollen jedoch die Jugendbewegungen der beiden separat bleiben.

Die konservativen Masorti-Gemeinden sind der neuen Vereinigung nicht beigetreten. Rabbi Jonathan Wittenberg, einer der führenden Masorti-Rabbiner in Großbritannien, erklärte der Jüdischen Allgemeinen, er gratuliere der neuen Bewegung. Masorti werde gründlich prüfen, wie man nun die wichtige Stellung zwischen dem orthodoxen und dem progressiven Judentum definiere.

Wittenberg sagt, er habe schon vor 40 Jahren, als er am Leo Baeck College mit Mitgliedern beider Bewegungen studierte, die Möglichkeit eines Zusammenschlusses erahnt – und sich gewundert, warum es so lange gedauert habe, bis es nun endlich dazu kam.

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Hollywood

80 Jahre Goldie

Die quirlige Schauspielerin feiert ihren runden Geburtstag – und ist nicht zu bremsen

von Barbara Munker, Sophie Albers Ben Chamo  23.11.2025

TV-Tipp

TV-Premiere: So entstand Claude Lanzmanns epochaler Film »Shoah«

Eine sehenswerte Arte-Dokumentation erinnert an die bedrückenden Dreharbeiten zu Claude Lanzmanns Holocaust-Film, der vor 40 Jahren in die Kinos kam

von Manfred Riepe  21.11.2025

USA

Zwölf Familien, eine Synagoge

Die meisten Juden in Nordamerika leben in Großstädten, auf dem Land gibt es nur wenige Gemeinden – aber gerade dort wächst eine besonders starke Identität. Ein Besuch in der Kleinstadt Rome im Bundesstaat Georgia

von Katja Ridderbusch  21.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  21.11.2025

Judenhass

»Wir wollen keine Zionisten«: Mamdani reagiert auf antisemitische Kundgebung vor Synagoge

Die Teilnehmer schrien unter anderem »Tod den IDF!« und »Globalisiert die Intifada!«

von Imanuel Marcus  21.11.2025 Aktualisiert

New York

Neonazi wollte als Weihnachtsmann jüdische Kinder mit Süßigkeiten vergiften

Der Antisemit soll zudem »Interesse an einem Massengewaltakt« gezeigt und Anleitungen zum Bau von Bomben geteilt haben. Nun wird er angeklagt

 21.11.2025

Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren ihr Lebensthema. Sie sah ihre Aufgabe als politische Denkerin darin, die Welt und die Menschen zu verstehen. Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

von Jürgen Prause  20.11.2025